Vom Leben mit der Erinnerung
 

Von 1963 bis 1965 fand in Frankfurt am Main der große Auschwitz-Prozess statt. Angeklagt waren SS-Führer, SS-Unterführer, SS-Ärzte und als einziger Häftling der mir nur zu gut bekannte Emil Bednarek, ehemaliger Kapo im Strafblock in Birkenau. Als solcher war er für eine Vielzahl krimineller Handlungen persönlich verantwortlich. Er hatte die Evakuierungen und das Kriegsende überlebt. In Schirnding / Oberfranken (nahe der tschechisch-deutschen Grenze) wähnte er sich in Sicherheit. Dort führte er die Bahnhofsgaststätte. Unter den Kameraden erzählte man sich, dass er seinen Lebensunterhalt verdient habe, in dem er auf dem Bahnhof belegte Brote und heiße Würstchen an die Reisenden verkaufte, während die Züge Aufenthalt hatten. Bednareks Stimme blieb selbst denen, die sie nur ein einziges Mal gehört hatten, unvergesslich. So hieß es, dass ihn ehemalige Häftlinge aus Polen erkannt hätten, als sie ihn auf dem Bahnhof hörten. Wochen später wurde er von Stanislaw Klodziński, einem der früheren Häftlingskrankenpfleger im Stammlager Auschwitz, identifiziert. Klodziński informierte die Staatsanwaltschaft in Frankfurt, was letztlich zu der Verhaftung Bednareks führte.

Im Januar 1965, am 126. Verhandlungstag in der Strafsache gegen Mulka und andere, wurde ich vor dem Schwurgericht in Frankfurt als Zeuge gegen Emil Bedanrek gehört. Ich sagte auch über die Firma Siemens-Schuckert aus, die die Arbeit von KZ-Häftlingen ausgebeutet hatte. Einer der Verantwortlichen vor Ort, der Ingenieur Kurt Bondzius, suchte Sklaven aus - unter denen auch ich mich befand -, und veranlasste ihre Überstellung in das Arbeitslager von Birkenau, genauer gesagt den Block 11, das Strafkommando. Dort waren sie der Willkür des Kapos Emil Bednarek ausgeliefert (wie bereits beschrieben). Ich berichtete über Einzelheiten des unmenschlichen Verhaltens Bednareks und seinen besonderen Eifer uns zu vernichten. Die zahlreichen Todesfälle unter uns sorgten dafür, dass Bondzius regelmäßig neue „Facharbeiter“ auswählen musste, als Ersatz für die „Verschwundenen“. Es ist offensichtlich, dass Kurt Bondzius wusste, welcher Behandlung wir im Arbeitslager ausgesetzt waren und welche Haltung Bednarek uns gegenüber einnahm.

Doch bei dem Prozess ging es nicht um Kurt Bundzus. Er war selber nur als Zeuge geladen und schilderte bei seiner Aussage am 18. Februar 1965 die Bedingungen im Lager Bobrek als nahezu idyllisch. Was ich zu dem Thema zu sagen hatte, war nicht dazu angetan, der Firma Siemens zu gefallen, noch weniger dem Oberingenieur Bondzius. Ich hatte ihn als SS-Mann eingestuft, weil er eine Uniform trug und den Wachleuten Anweisungen erteilen konnte. Er versicherte, dass er eine normale Wehrmachtsuniform getragen hätte, seine Aufgabe wäre die Bereitstellung ausländischer Arbeitskräfte gewesen. Nie habe er der SS angehört.

Nach unserer Befreiung hatten einige unserer Kameraden und auch ich die Vermutung angestellt, dass Kurt Bondzius vielleicht gewisse Risiken eingegangen wäre, um uns zu retten. Ich wünschte mir das von Herzen... Vielleicht hatte es dann doch einen guten Menschen gegeben in dieser Welt der Mörder? Um dieser Möglichkeit nachzugehen, vereinbarte ich ein Gespräch, an dem auch der ehemalige Werkmeister in Bobrek, Georg Hanke, teilnahm. Nachdem ich die Umstände meiner Anwerbung ins Gedächtnis gerufen hatte, fragte ich Bondzius, ob er denn nicht bemerkt hätte, dass weder ich noch die meisten meiner Kameraden die von ihm geforderte Qualifikation tatsächlich besaßen.

„Natürlich, ich erinnere mich ganz genau.“

„Was war denn dann der Gesichtspunkt, nachdem Sie ihre Auswahl getroffen haben? Können sie mir Gründe für ihre Entscheidungen nennen?“

Mit erstaunlicher Offenheit erklärte er mir:

„Ich habe sie nicht wegen dem, was sie waren ausgewählt, sondern wegen dem, was ich aus ihnen machen konnte. Und ich habe mich nicht geirrt, weil sie alle gute Arbeiter geworden sind.“

Die schwache Hoffnung die ich gehabt hatte, in ihm einen aufrechten Mann zu treffen, machte einer großen Enttäuschung Platz. Er war, wie er selber erneut bewiesen hatte, nichts als ein gewöhnlicherer Handlanger des „3. Reiches“ gewesen und sich der schwerwiegenden Folgen seiner Entscheidungen für den einzelnen Häftling anscheinend nicht bewusst, zumindest fühlte er sich nicht verantwortlich.

Bei unserer Verabredung überreichten Bondzius und Hanke mir Fotos, die in den Fabrikationshallen in Bobrek gemacht worden waren. Ich erkannte mich selber wieder und auch meinen Freund Se'ew. Es sind sehr seltene Aufnahmen. Natürlich freute es mich, die Bilder zu bekommen Es befremdet aber, dass – nicht nur in diesem Fall – die Deutschen Gefallen daran fanden, ihre Opfer zu fotografieren und diese Beweise ihrer Verbrechen wie Trophäen herumzureichen, wenn sie wieder in ihren Wohnzimmern saßen.

Die von den Alliierten angestrengten Prozesse in Nürnberg erreichten die Verurteilung und die Bestrafung einer kleinen Zahl von Nazi-Verbrechern, darunter Figuren wie Hermann Göring und Heinrich Himmler. Aber wie viele Schlächter haben es geschafft, durch die viel zu großen Löcher im Netz der Justiz der Sieger und – später – der Besiegten zu schlüpfen? Wie viele haben ihr Leben als ehrenhafte Bürger beendet und starben friedlich in ihren Betten, umgeben von ihren Familien und ohne das geringste Schuldgefühl? Dokumenten aus dem SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt (Akten heute im Bundesarchiv in Berlin) zur Folge, umfasste die SS in den Konzentrationslagern im Januar 1945 etwa  40 000  Personen, davon knapp 10% weibliches Wachpersonal. Es ist offensichtlich, dass von diesen  40 000, unseren täglichen Peinigern, nur eine verschwindend kleine Minderheit überhaupt nach ihrer Verantwortung gefragt wurde.

Bednarek, der als Häftling nur ein besonders willfähriges Werkzeug der SS war, wurde zu einer relativ milden Strafe verurteilt.

Der Prozess in Frankfurt war für die Überlebenden nicht nur die Gelegenheit, ihre Erlebnisse öffentlich zu machen und die Anklage zu unterstützen, sondern auch ein Anlass vieler bewegender Wiederbegegnungen mit anderen ehemaligen Häftlingen. Seit jenem Treffen haben wir, die Sklaven von Bobrek, uns erneut in alle Himmelsrichtungen verteilt. Viele leben in der französischen Provinz, andere im Ausland, wo sie eine neue Familie gegründet haben. In Paris blieben nur wenige. Die ehemaligen Deportierten sind Mitglieder verschiedener Organisationen, wie ich selber auch. Wir treffen uns, um mit unseren Erinnerungen nicht alleine zu sein, unserer toten Kameraden zu gedenken und zunehmend auch um die Arbeit von Gedenkstätten innerhalb und außerhalb Frankreichs zu unterstützen.

Besonders wichtig ist mir persönlich die Förderung einer der größten Erinnerungsorte in Israel. In der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem werden vielfältige Erinnerungen aufbewahrt. Dort befinden sich mehrere Museen, Archive und Mahnmale. Es gibt eine Straße, die mit Bäumen gesäumt ist unter denen Schilder mit den eingravierten Namen derer stehen, die man zu „Gerechten der Völker“ ernannt hat. Sie werden so genannt, weil sie unter Einsatz ihres eigenen Lebens, das anderer gerettet haben. In einer Bibliothek ist die Geschichte jedes dieser Menschen aufgezeichnet. In einem Informationssaal stehen für Besucher und Forscher Computer bereit, die eine höchstmögliche Anzahl von Hinweisen und Auskünften zur Verfügung stellen. Im Mai 1985 fand in Yad Vashem eine Erinnerungsfeier zum 40. Jahrestag der Niederlage der Nazis statt. Fünftausend Überlebende aus der ganzen Welt kamen. Das Treffen verlief in vollkommener Harmonie.

Der Umgang mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist in Frankreich nicht ohne Probleme gewesen. Mein Bericht zeigt, dass ohne die Zuarbeit französischer Behörden, insbesondere dem Eifer einzelner Polizeibeamter, meine Deportation eventuell gar nicht stattgefunden hätte. Wenn sich ein Einzelner aus Gewissensgründen weigerte, so ist dieses eine Ausnahme, die hervorgehoben gehört. Das Entlassungsgesuch von Philippe Jean, einem Polizeikommissar im 7. Revier der Stadt Toulouse, vom 13. Januar 1943 ist ein Zeugnis ungewöhnlicher Charakterstärke.

„Sehr geehrter Herr Polizeipräsident!

In den vergangenen Jahren hatte ich die Ehre ihren Anordnungen folgen zu dürfen; ich hatte die Vorstellung damit meinem Land zu dienen. Heute – nach eingehender Gewissensprüfung – bin ich zu der Einschätzung gekommen, dass mir meine Aufgaben von einer fremdbeherrschten Verwaltung zugewiesen werden, die sich in die Niederlage ergeben hat.

Da ich zu loyal bin, um Sie zu hintergehen, scheint es mir folgerichtig, dass es mir nicht mehr möglich ist, ihnen meine Ergebenheit zu versichern.

Vielleicht antworten Sie, dass ich durch einen Eid gebunden bin, den ich freiwillig geleistet habe. Diesen Eid habe ich auf ein Staatsoberhaupt abgelegt, das Frankreich verkörperte. Tatsächlich ist es Frankreich, und allein Frankreich, dem ich die Treue geschworen habe. Es liegt bei ihnen zu beurteilen, ob ich, in dem ich die Seiten wechsele, mein Vaterland im Stich lasse oder verrate.

Soweit es mich betrifft, kenne ich nur einen Weg, den der Pflicht.

In ihrer Eigenschaft als Vorgesetzter werden sie mich vielleicht tadeln und bestrafen, aber ich habe die innere Überzeugung, dass sie mich mit dem Herzen eines Soldaten verstehen werden.

Ich richte diese Abschiedsworte an den Oberst, den Legionär, mit der heimlichen Hoffnung, dass die Zukunft es mir erlauben wird, wieder unter ihrem Befehl zu dienen, aber es sollte gemäß meinen moralischen Werten sein und dem einzigen Gesetz, das ein Franzose gelten lassen kann: dem der Ehre.

In dem ich ihnen meine Dankbarkeit für ihre wohlwollende Führung ausdrücke, die sie mir gegenüber stets bewiesen haben, bitte ich Sie, Herr Oberst, den Ausdruck meiner Hochachtung entgegenzunehmen.

Unterschrift: Philippe.“

Jean Philippe, wurde seines Dienstes enthoben, als Widerstandskämpfer deportiert und in Deutschland erschossen. Er wurde nach seinem Tod mit der wohlverdienten Auszeichnung „Gerechter unter den Völkern“ bedacht. Es ist offensichtlich, dass nicht sehr viele Franzosen den Mut oder die Würde des Kommissars Jean Philippe hatten. Bis zum Januar 2003 sind mit dem Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ 19 706  Menschen durch den Staat Israel ausgezeichnet worden, darunter nur  2 262  Französinnen und Franzosen.

Der französische Präsident Jacques Chirac hat anläßlich des Gedenkens an die „Rafles de Vel-d'Hiv“ am 15. Juli 1985 eine Erklärung abgegeben, in der es um die Verantwortung des französischen Staates und einiger Franzosen für die Festnahmen und die Deportationen von Juden aus Frankreich geht. Ich sah mich veranlasst, ihm dafür meine Anerkennung auszudrücken, schließlich war es das erste Mal seit 53 Jahren, dass ein französisches Staatsoberhaupt zu den Ereignissen eine kritische Stellungnahme abgab. In dem Antwortschreiben aus dem Präsidialamt wurde noch einmal festgehalten, dass es inakzeptabel bliebe, dass Franzosen den Verbrechen des Nazi-Regimes zugearbeitet hätten und dass derartige Fehler im Namen des französischen Staates begangen worden wären.

Mit dem verstärkten öffentlichem Auftreten der Leugner des Judenmordes, der Revisionisten, die behaupten, es wäre alles ganz anders gewesen, und anderer Geschichtsfälscher, entstand in mir der Wunsch, über meine Erlebnisse zu berichten. Seit mehreren Jahren gehe ich in Schulen und Studienzentren, stelle mich als Zeitzeuge zur Verfügung, teile mit den Schülerinnen und Schülern meine Erinnerung und erzähle ihnen so behutsam wie möglich meine Geschichte.

Das Alter meiner Zuhörerschaft entspricht dem, das ich während der Deportation hatte. Es ist den Jugendlichen bewusst und sie sind deswegen in besonderer Weise angesprochen, aufmerksam und meistens auch bewegt. Während meiner Berichte achte ich darauf, den jungen Zuhörern zu vermitteln, dass die Juden nicht die Einzigen waren, die der Unterdrückung durch die Nazis unterlagen. Es gab zum Beispiel auch die Zigeuner, die slawischen Völker und die politische Opposition in Deutschland und in den von den Deutschen besetzten Ländern Europas. Keinesfalls möchte ich aber, dass die Schülerinnen und Schüler den Eindruck gewinnen, dass ich sie zu irgendetwas bekehren wolle.

Innerhalb von zwei oder drei Stunden über die sieben Jahre von Wien nach Auschwitz zu erzählen, von 1938 bis 1945, vom Anschluss Österreichs bis zur Befreiung, ist keine leichte Übung. Aber die Anstrengung dieser Begegnungen werden durch die Briefe und Zeichnungen reichlich ausgeglichen, die ich von den Kindern und Jugendlichen erhalte. Es gibt viele drängende Fragen, die mir gestellt werden. Sie stammen nicht notwendigerweise von den älteren Schülern. Es sind eher die Jüngeren, die treffende und mitfühlende Fragen finden.

Um einen Einblick in das zu gewähren, was Schülerinnen und Schüler heute angesichts meiner Erfahrungen am meisten bewegt, möchte ich an dieser Stelle die sechs am häufigsten gestellten Fragen und meine Antworten wieder geben.

 

1  Welche Schlussfolgerungen haben Sie aus Ihrer Vergangenheit gezogen?

— Aus meiner persönlichen Erfahrung bin ich überzeugt, dass die Shoah nicht eine der vielen Verfolgungen war, wie sie die Juden aus der Geschichte kannten. Sie war etwas völlig Neues, etwas Einzigartiges, was es noch nie vorher gegeben hatte: der Versuch ausnahmslos alle Juden mit den modernsten Produktions- bzw. Vernichtungsmethoden zu ermorden.

In Auschwitz (und den anderen Vernichtungslagern) sind die Illusionen, die die westliche Zivilisation in sich barg, zerbrochen. Alles was bis dahin menschlich, edel und gerecht erschien, verschwand in diesem Abgrund des Nichts. Auschwitz steht für den Durchbruch dessen, was es nicht geben darf. Es war der Ort, an dem die Menschlichkeit keinen Sinn mehr machte.

Die wichtigste Schlussfolgerung ist natürlich, dass sich so etwas nicht wiederholen darf. Mit aller meiner Kraft werde ich aus diesem Grund auch den Staat Israel verteidigen. Er ist die einzige Garantie, dass es für Juden einen Zufluchtsort gibt, zu denen ihnen der Zugang niemals verweigert werden wird.

2  Reagieren Sie unter bestimmten Umständen den Erfahrungen aus dem Lager entsprechend?

— Ich selber würde dies mit einem klaren Nein beantworten, wenn damit gemeint ist, dass ich Eigenarten angenommen haben könnte, die für das Überleben im Lager von Nutzen waren, wie beispielsweise Egoismus, Rücksichtslosigkeit, Gewissenlosigkeit, Unterwürfigkeit oder Speichelleckerei und dass ich mich gelegentlich entsprechend verhalten würde.

Mein Eindruck ist eher, dass ich die Feuer-, Wasser- und Kälteprobe bestand, mein bisheriges Leben hinter mir ließ, um eine spätere Wiedergeburt erleben zu können. Meine Seele gewann also durch eine dramatische und extreme Erfahrung, die ich weder gesucht noch auf andere Art selber herbeigeführt hatte. Wiedergeburt heißt aber auch, dass sich mein Charakter nicht grundlegend geändert hat. Vielleicht ist mir deswegen auch immer wieder das begegnet, was mir das Überleben ermöglichte: Hilfsbereitschaft, Freundschaft und Solidarität.

3  Verspüren Sie gegenüber den Deutschen Hass?

— Soweit es den Hass betrifft, so entspricht auch dieser mehr einem Charakterzug, als er das Ergebnis einer noch so schlechten Erfahrung sein könnte. Hasserfüllte Menschen sind unglücklich und sie bleiben es, selbst, wenn ihr Hass für kurze Zeit befriedigt wird. Ich bedauere sie. Die jüdische Religion gebietet, genauso wie die christliche, seinen Nächsten zu lieben. Man könnte zur Erläuterung sagen, dass einen anderen zu lieben bedeutet, sich selbst zu lieben. Einen anderen zu hassen, kann konsequenterweise nichts anderes erzeugen als Selbsthass. Wenn ich heute noch Hass in mir tragen würde, hätte ich das Gefühl den SS-Leuten zu ähneln. Das ist für mich unvorstellbar.

Der Nationalsozialismus hat mit seiner Lehre des Hasses, des Neides und der Missgunst, seiner rassistischen Erziehung und seinen Propagandalügen das Gefühl für Moral und das Bewusstsein der Menschenwürde einer ganzen Generation verdorben und ausgelöscht. Er hinterließ den kommenden Generationen ein sehr schweres Erbe — nicht nur, aber besonders in Deutschland.

4  Können wir Ihre Tätowierung sehen?

Die Frage nach der Tätowierung wird meist schüchtern und etwas verschämt gestellt. Natürlich zeige ich meine Tätowierung, aber es sticht mit jedes Mal ins Herz.

5  Haben Sie es je bedauert, als Jude geboren worden zu sein?

— Durch meine Erziehung habe ich ein starkes jüdisches Bewusstsein entwickelt. Auch in den furchtbarsten Momenten habe ich niemals ein Bedauern empfunden, Vorbehalte gehabt oder gar meine Herkunft verleugnet. Indessen kam für die assimilierten (an die Mehrheitsgesellschaft angepassten) Juden, die ihre jüdische Identität ablehnten oder gar verleugneten, zu dem ganzen Elend noch ein weiteres hinzu: es war ihnen nicht klar, dass sie mitunter auf der gleichen Stufe standen wie die Antisemiten.

6  Glauben Sie an Gott?

— Der Frage nach dem Glauben an Gott nach Auschwitz bleibt offensichtlich bestehen und die Antwort darauf ist schwierig. Ich kann darüber nur als ein Mensch sprechen, der fast drei Jahre lang dort gewesen ist und seinen Glauben nicht verloren hat. Ich habe gesehen, dass sehr fromme Menschen ihren Glauben nach ihrer Ankunft im Lager verloren und andere ihn im Gegenteil wiederfanden. Als Schlussfolgerung könnte man sagen: Wenn es möglich war, in Auschwitz an Gott zu glauben, ist es auch möglich, nach Auschwitz an Gott zu glauben.

Zu diesem schwierigen Punkt möchte ich ältere Jugendliche und Erwachsenen gerne zur Lektüre des Essays „Der Gottesbegriff nach Auschwitz: eine jüdische Stimme“ von Hans Jonas anregen (Frankfurt/Main 1987). Einer der Kerngedanken bei Hans Jonas ist, dass Gott dem Menschen alles gegeben hat, indem er sich in die werdende Welt hineinbegab, und dass es nun Sache des Menschen sei, Gott zu geben. Zu ähnlichen Überlegungen kam eine junge jüdische Frau, bevor sie nach Auschwitz deportiert wurde.

Etty (eigentlich Esther) Hillesum hatte sich freiwillig als Mitarbeiterin des „Judenrates“ in Amsterdam gemeldet. Ende Juli / Anfang August 1942 bekam sie eine Art Anforderung für das Durchgangslager Westerbork, um dort bei der Organisation der Transporte zu helfen. Im September 1943 wurde sie, gemeinsam mit einem Bruder und ihren Eltern, nach Auschwitz deportiert. Das Todesdatum von Esther Hillesum ist der 30. November 1943. Ihre Tagebücher aus den Jahren 1941 und 1942 blieben erhalten, wurden jedoch erst spät veröffentlicht – in Deutschland zum ersten Mal 1983.

Angesichts der sich steigernden Bedrohung wird der Gegenstand ihrer Tagebuchaufzeichnungen mehr und mehr religiös. Esther Hillesum schuf sich einen persönlichen Gottvater jenseits konventioneller jüdischer (und christlicher) Vorstellungen eines All-Mächtigen. Ihr Gott ist jemand, dem sie Versprechen gibt, von dem sie aber nichts erwartet, und von dem sie nichts verlangt. Im Wissen um das harte Schicksal, dass ihr bevorstand, bewies sie eine erschütternde Demut. Am 12. Juli 1942 schrieb sie in ihrem „Sonntagsgebet“:

„Ich will Dir helfen, Gott, dass Du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies Eine wird mir immer deutlicher: dass Du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir Dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von Dir in uns selbst zu retten. [...]  Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass Du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir Dir helfen müssen und Deinen Wohnsitz Ort in unserem Innersten bis zum Letzten verteidigen müssen.“ (Das denkende Herz: die Tagebücher von Etty Hillesum 1941 – 1943, hrsg. und eingeleitet von Jan Geurt Gaarlandt, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 149).

Erst nach dieser Lektüre und nach ernsthaftem Nachdenken schlage ich vor, dass jeder in seiner eigenen Seele und vor seinem eigenen Gewissen nach der Haltung forschen soll, die ihm richtig erscheint — falls den Fragenden das Problem „Wo war Gott in Auschwitz?“ wirklich beschäftigt.

Eine Geschichte aus meinem Bekanntenkreis, zeigt wie vielschichtig das Problem sein kann und welche widersprüchlichen Gefühle es hervorruft. Mit einem meiner sehr engen Freunde, einem Überlebenden, der vor kurzem gestorben ist, diskutierte ich oft die Frage, wie es mit Gott nach Auschwitz stünde. Auch wenn wir im Großen und Ganzen stets der gleichen Meinung über die meisten Dinge waren, so waren wir uns immer uneins, wenn es um Gott ging. Mein Freund, der normalerweise ruhig und ausgeglichen war, ereiferte sich jedes Mal und sprach von Gott mit einer Entschiedenheit, in der ich ihn kaum wiedererkannte.

Es überraschte mich nicht zu erfahren, dass sein Testament ausdrücklich festlegte, dass er verbrannt werden sollte, was nach den Regeln der jüdischen Religion untersagt ist. Zur gleichen Zeit wünschte er aber unbedingt die Anwesenheit eines Rabbiners, der das Totengebet sprechen sollte...

„Alle Überlebenden sollten ihre Geschichten aufschreiben,“ sagte Elie Wiesel, ein Überlebender, der selber sehr viel geschrieben hat, eines Tages zu mir. In dem Augenblick habe ich den Grund seines Vorschlages nicht verstanden. Ich stellte mir nur die Berge der Bücher vor, die über die Shoah bereits geschrieben worden sind. Was konnte diese dringende Aufforderung rechtfertigen? So viele schon geschriebene Bücher, so viele veröffentlichte Meisterwerke, reichte das etwa nicht?

Ich stellte mir vor, dass diese Mahnung einen religiösen Grund haben könnte. Ich dachte an die Weisung, wie sie in der Thora steht: „Schreibt euch also folgenden Gesang auf, lehrt ihn die Kinder Jisraels...“ (Deuteronomium 31,19).

Erst als ich meinen eigenen Bericht schrieb, verstand ich allmählich die Aufforderung Elie Wiesels. Es geht darum eine Bibliothek zu errichten, die so groß ist, wie die Tragödie der Shoah. So schmerzlich das auch sein mag, so nutzlos es auch erscheinen kann, vor allem wir, die Überlebenden, Zeugen des Unbeschreiblichen, können einen Beitrag zu dieser großen Herausforderung leisten. Jeder Fall, den wir darstellen, ist einzigartig in seinen Erfahrungen, und jeder Bericht ist es auch. Vielleicht könnte die Sammlung dieser Berichte eines fernen Tages dem Kanon der Bücher hinzugefügt werden, die den Kindern Israels als Erinnerungs- und Lehrbücher dienen.

Deswegen war es notwendig, dass ich dieses Buch schrieb. Ich musste dem Aufruf folgen, trotz aller Schwierigkeiten, die mir begegneten und obwohl ich befürchtete, ein Mal zu viel das zu wiederholen, was andere vor mir schon so gut beschrieben hatten. Die Shoah aus meiner persönlichen Anschauung zu schildern, hat mir eine gewaltige Anstrengung abverlangt. Das Schreiben ist nie mein bevorzugtes Ausdruckmittel gewesen.

Ich verlor mich zwischen Anfällen unvermittelt auftretender Unruhe und dem Nachdenken über Fragen, auf die ich keine eindeutigen Antworten fand. Dabei erinnerte ich mich an die Geschichte von dem armen Mann, der nicht lesen und nicht schreiben konnte, und der gerade mal das Alphabet beherrschte.

Eines Tages saß er an einem Ort des Gebetes. Er sagte mit Eifer das einzige auf, dass er aufsagen konnte: das Alphabet. Sein Nachbar, ein wohlgenährter und gut gekleideter Bürger hörte ihn und forderte ihn auf, Gott nicht weiter mit solchem Unsinn zu belästigen. Der Bürger sagte ihm, dass er der Hilfe Gottes dringend bedürfe, da er gerade bei Verhandlungen sei, das Geschäft eines Mitbruders zu kaufen und ein erfolgreicher Abschluss würde ihn zum größten Kaufmann des Landes machen.

Der arme Kerl wusste in aller Demut um die Unzulänglichkeit seiner Gebete. Aber weil er die gebräuchlichen Gebete nicht kannte, so erklärte er dem reichen Händler, würde Gott in seiner unendlichen Güte schon die Buchstaben richtig sortieren. Er würde die richtigen Worte finden, dann die richtigen Sätze und so die Gebete wiedererkennen.

Meinen Bericht möchte ich gerne mit einer anderen chassidischen Geschichte beschließen:

Eine Bande von Kosaken fiel über die Dörfer her, in denen Juden wohnten. Eines nach dem anderen wurde von den Gewalttaten betroffen: Vergewaltigungen, Morde und Zerstörungen.

Als sich die Kosaken ihrem Dorf näherten, stürmten alle Einwohner eines bestimmten Ortes in die Synagoge — der Rabbiner voran. Er flehte zu Gott in seiner Allmacht; die Tränen mischten sich mit seinen Gebeten; er hoffte die Katastrophe abzuwenden. Sein Eifer wurde durch den Schrecken beflügelt. Die Dorfbewohner unterstützten ihn. Alle befürchteten, ihr letztes Stündlein habe geschlagen und stimmten in seine Gebete mit ein. Plötzlich hörte man aus dem hinteren Teil des Raumes einen entsetzlichen Schrei, einen Schrei, der einem eine Gänsehaut macht: es war ein Taubstummer, der den herzzerreißenden Laut ausstieß. Als er schwieg, setzte der Rabbi seine Gebete fort. Nun schien er aber getröstet zu sein und fast heiter.

Als die Andacht beendet war, trat einer der Honoratioren des Dorfes an ihn heran und fragte ihn nach dem Grund des plötzlichen Wandels.

„Das ist ganz einfach,“ sagte der Rabbi. „Ich war sehr beunruhigt über den Erfolg meiner Gebete. Ich war mir nicht sicher, ob Gott sie hören würde. Aber als der Taubstumme seinen fürchterlichen Schrei ausstieß, wusste ich, dass ich mir keinerlei Sorgen mehr machen musste, Gott kann ihn einfach nicht überhört haben.“

Vielleicht finden die Erinnerungsbücher, die noch von den ungeübten Autoren unter den Überlebenden der Shoah verfasst werden müssen, ihren Widerhall im kollektiven Bewusstsein, wie es der Schrei des Taubstummen in den Ohren Gottes tat. Von der Form her sind sie vielleicht nicht ganz perfekt, sie sind aber doch von einer derartigen Authentizität, dass es nicht anders geht: sie müssen beachtet werden.

Das Aufschreiben der Erlebnisse ist eine Sache. Solange es mir aber möglich ist, werde ich über die Shoah reden. Denn ich setze auf die Kraft der mündlichen Überlieferung und der persönlichen Ansprache: Was uns zu sagen gelingt, ist beständiger als das, was wir aufschreiben können.