Kommando Siemens-Schuckert in Bobrek
 

Zu unserer kleinen Gruppe aus dem Block 11 in Birkenau kamen noch etwa 250 Männer und 30 Frauen in das neue Lager. Die Frauen befanden sich in einem Gebäude, dass mit einem Gitter von dem Bereich der Männer getrennt war. Nachdem ich zwanzig Monate lang im Freien gearbeitet hatte, war ich nun zum ersten Mal wieder vor den Unbilden der Witterung und den ständigen gewalttätigen Übergriffen der Kapos und SS-Wachen geschützt.

Das Essen war hier etwas besser und die am meisten begrüßte und am wenigsten erwartete Änderung war die Einführung eines freien Sonntages alle zwei Wochen.

Die Wachleute waren weniger angriffslustig. Der Lagerführer, der SS-Mann Anton Lukaschek schien seinen ganzen Zorn bei den vorherigen Häftlinge abreagiert zu haben. Seine Hauptbeschäftigungen waren nun das Vermeiden einer Abkommandierung an die Ostfront und das Beschaffen alkoholischer Getränke um sich vollaufen zu lassen.

Die tägliche Gegenwart von Zivilarbeitern der Firma Siemens-Schuckert und die zwingende Vorgabe der Firma, dass eine regelmäßige Produktion stattfinden musste, beides trug dazu bei, dass unser Leben weniger hart wurde.

Wie früher hatte ich das Vorrecht mir aussuchen zu dürften, wie groß die Maschine war, an der ich arbeiten sollte. Ich wählte die kleinste, weil ich dachte, dass ich mit ihr am einfachsten umgehen könnte. Diese Annahme war grundfalsch; die Größe hatte aber auch gar nichts damit zu tun, wie schwer es war etwas an der Maschine herzustellen, eher im Gegenteil. Bei der Herstellung meines ersten Werkstückes vertat ich mich um zehn Millimeter! Dieser Riesenfehler trug mir eine sehr ernste Mahnung meines deutschen Kontrolleurs ein:

„Ein zweiter Fehler und du findest dich in Auschwitz wieder!“

Seine Drohung wirkte. Ich habe mich nie wieder vertan.

Zwischen den Häftlingen entwickelten sich nun vertrauensvollere Beziehungen und ein größeres Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Anwesenheit von Frauen trug viel dazu bei, das Klima zu ändern und uns zu trösten. Die Frauen hatten sämtlich eine bewundernswerte Haltung und eine große Würde. Und das, obwohl ihr Leben unter diesen Umständen unendlich viel schwerer zu ertragen war, als das unsere, das der Männer.

Meine Freundin Thérèse Glowinsky ist inzwischen die Älteste in der Gruppe der Überlebenden aus Bobrek. Als sie verhaftet wurde, musste sie ihre drei kleinen Kinder und ihren Ehemann in Frankreich zurücklassen. Wie groß war die Unruhe dieser Frauen und Männer, die ihre Familien sich selber überlassen mussten! Sie lebten in ständiger Angst, dass ihretwegen auch diese Kinder oder der Mann verhaftet werden könnten. Trotz ihres eigenen großen Kummers und ihrer inneren Unruhe hat Thérèse ihre Kameraden unablässig ermuntert, im Kampf um das Überleben niemals nachzulassen.

Im April 1944 wurden mit den Transporten, die auf den französischen Listen die Nummern 71 und 73 tragen, die Mitglieder der Familie Jacob deportiert. Albert Jacob und sein Sohn Jean kamen in das wenig bekannte Konzentrationslager von Kaunas (Kauen / Kowno) in Litauen, während Yvonne Jacob mit ihren beiden Töchtern Madeleine und Simone nach Birkenau gebracht wurden.

„Stenia“ (Stanislawa Starostka), die Lagerälteste des Frauenlagers, hielt sich in der Nähe des Tores auf, als der neue Transport eintraf — möglicherweise hatte sie auch den Auftrag, unsere Frauenabteilung mit einigen Neuzugängen aufzustocken. Jedenfalls bemerkte sie Simone, die damals sechszehn Jahre alt war und sagte zu ihr:

„Du bist zu jung und zu schön um schon zu sterben, ich werde dich wohin schicken, wo du mehr Gelegenheit hast, dich zu halten.“

Mutig antworte Simone, ohne das Risiko zu beachten, dass sie damit einging:

„Aber meine Mutter und meine Schwester müssen bei mir bleiben!“

Völlig verdutzt, dass so etwas passieren konnte, stimmte die berüchtigte Stenia zu, obwohl Frau Jacob offensichtlich sehr mager und sehr schwach war. Sie hatte kurz vor der Deportation eine größere Operation vornehmen lassen müssen. So haben es der Mut und die Schönheit von Simone ihrer Mutter und ihrer Schwester Madeleine ermöglicht – mit drei weiteren Deportierten – dem Kommando Siemens-Schuckert in Bobrek zugewiesen zu werden.

Eine ältere Schwester von Simone, Denise, war als Widerstandskämpferin deportiert worden, glücklicherweise überlebte sie. Frau Jacob ist nach der Evakuierung von Auschwitz gestorben; Madeleine kam nach dem Krieg bei einem Unfall ums Leben.

Simone machte auf mich einen ungeheuren Eindruck mit ihrer Schönheit, ihrer Ernsthaftigkeit und ihren klaren, strahlend blauen Augen mit dem traurigen Blick. Ihre Ähnlichkeit mit meiner Schwester Erika machte sie mir noch schätzenswerter.

Nach ihrer Rückkehr aus Auschwitz beendete Simone Jacob ihre Ausbildung, heiratete Antoine Veil und bekam drei Kinder. Inzwischen ist sie nicht nur Großmutter, sondern auch Urgroßmutter, worauf sie sehr stolz ist. Gleichzeitig begann sie eine politische Karriere, die ihresgleichen sucht. Sie war französische Gesundheitsministerin. In ihrer Amtszeit setzte sie eine liberalere Gesetzgebung in bezug auf freiwillige Schwangerschaftsunterbrechungen durch. Sie wurde die erste Präsidentin des Europäischen Parlamentes und engagiert sich für den Entwurf einer gemeinsamen Verfassung Europas.

In unserer Finsternis, in diesem Tunnel, an dessen Ende kein Licht der Hoffnung zu sein schien, passierte mit etwas, womit ich nicht gerechnet hatte: meine erste große Liebe. Es war ein Gefühl, das mir noch nie begegnet war. Unter den Frauen des Kommandos zog ein ganz besonders Mädchen meinen Blick an. Sie war klein, mit braunen Haaren, hübsch und sehr zurückhaltend. Ich überwand meine eigene Schüchternheit, um sie durch das Gitter hindurch anzusprechen. Sie hieß Bluma Dab und kam aus Antwerpen. Sie beherrschte alle meine Gedanken. Ihre Gefährtinnen beobachteten uns mit Wohlwollen, sie waren belustigt und beglückt zugleich. Meine platonische Liebe rührte sie.

Eines Tages überquerte Bluma allein den Hof vor der Fabrik. Ohne zu zögern hielt ich meine Maschine an und ging zu ihr hinaus. Wir vergaßen völlig unsere Umgebung und gingen spazieren! Die Pfiffe des verblüfften Lagerkommandanten brachten uns in die traurige Wirklichkeit zurück.

Er blaffte mich an:

„Was denkst Du Dir eigentlich? Du bist gerade dabei ein schweres Verbrechen zu begehen. Nach dem Appell kannst du dich auf eine harte Strafe gefasst machen!“

Dieser Vorfall wurde schließlich mit einem Fußtritt quittiert, dem ich einigermaßen ausweichen konnte. Glücklicherweise war Lukaschek, ganz im Gegensatz zu seinen sonstigen Gewohnheiten, nicht betrunken.

Im Nachhinein glaube ich, dass diese Liebe in mir die Kraft zu träumen wiedergeweckt hat und die Zuversicht. Offensichtlich bot sie in gewisser Weise einen Trost. Mit einem Stück gestreiftem Stoff, das ich irgendwo organisiert hatte, machte ich mir einen Kragen für mein Hemd und verbesserte die Form meiner Mütze. Anscheinend wollte ich ihr gefallen und etwas vorteilhafter aussehen. Die Bemühungen um meine Kleidung entgingen meinen Kameraden natürlich nicht.

Manchmal gab es merkwürdige und eher lächerliche Vorfälle. Eines Tages wurde ich in den Waschräumen Zeuge einer überraschenden Szene mit Zügen einer Comedy. Einige Deportierte, Techniker, Rechtsanwälte, Professoren und Ärzte, begrüßten sich mit einer leichten Verbeugung und redeten sich mit ihren rechtmäßigen Titeln an:

„Guten Morgen, Herr Ingenieur.“

„Guten Tag, Herr Doktor.“

„Gut geschlafen, Herr Professor.“

Wollten sie sich in dieser verkehrten Welt an ihre Vergangenheit erinnern? Sich gegen die Erniedrigung und Auslöschung der Persönlichkeit zur Wehr setzen? Oder sich ganz einfach nur beweisen, dass sie noch lebten? Es war das traurige Schauspiel der Vergangenheit in einer frustrierenden Gegenwart.

Andere verbrachten ihre Freizeit in dem sie sich an die üppigen Mahlzeiten erinnerten, die ihre Mütter oder ihre Frauen zubereitet hatten. Man tauschte sogar Rezepte aus! Sie sprachen davon mit einer derartigen Hingabe, dass man meinen konnte, den Geschmack auf der Zunge zu haben.

Mein Bettnachbar, Se’ew, war polnischer Herkunft. Er sprach deutsch und wir hatten viele Gemeinsamkeiten. Wir wurden Freunde und sind es immer geblieben.

Trotz des ungeheuren Risikos fertigten wir während unserer Arbeitszeit Feuerzeuge an, die wir gegen Nahrungsmittel mit den zivilen Mitarbeitern, tauschten. Unser Freund Nussbaum, der Ingenieur, der uns kontrollieren sollte, wusste von unseren Zusatzeinkünften, ließ uns aber des besseren Auskommens halber gewähren.

Als wir im August 1944 von der Befreiung der Stadt Paris erfuhren, konnten wir unsere Freude nicht verhehlen. Seit dem wussten wir, dass sich bald Veränderungen ergeben würden. Wir konnten uns nur noch nicht vorstellen, worin sie bestehen würden. Es ist klar, dass das von uns am meisten gewünschte Ereignis der Sieg der Alliierten und die vollständige Auslöschung des Nazi-Regimes war.

Gegen Ende diesen Jahres hörten wir mitunter Sirenen, die den Überflug alliierter Flugzeuge ankündigten. Wir freuten uns darüber. Aber weder die Bahnstrecken nach Auschwitz noch das Lager selbst wurden bombardiert. Für die Alliierten waren das keine militärischen Ziele. Es ist sicher, dass ein Bombardement viele Opfer auch unter den Deportierten gefordert hätte. Aber genauso sicher scheint, dass es viele der Befreiung hätte näher bringen können.

Am Jom Kippur (Versöhnungstag) jenes Jahres habe ich gefastet, wie es an diesem Tag üblich ist. Ich war davon überzeugt, dass, komme was da wolle, es der letzte Jom Kippur sein würde, den ich im Lager verbringen müsste.

Das Verhalten der Wachen uns gegenüber hatte sich geändert. Lukaschek forderte uns sogar auf, eine Sylvesterfeier vorzubereiten. Erich Altmann, ein gebürtiger 35-Jähriger Deutscher wurde mit der Organisation des Abends beauftragt und er erledigte das mit Brillanz.

Wie einzigartig war doch sein Schicksal! Als die Nazis an die Macht kamen, schaffte er es, Berlin zu verlassen und nach Palästina zu gelangen. 1939 fuhr er nach Frankreich in Urlaub und wurde dort vom Krieg überrascht. Er meldete sich für die Fremdenlegion. Nach dem Waffenstillstand wurde er demobilisiert. Es war ihm unmöglich, nach Palästina zurückzukehren und so wurde er 1942 aus Frankreich deportiert.

Der Altersunterschied zwischen uns beiden machte es mir schwer, ihn zu duzen. Als wir eines Tages an der selben Werkbank arbeiteten, redete ich ihn mit „Herr Altmann“ an. Ein SS-Mann hörte mich und brüllte: „Hier gibt es einen Herrn? Wo ist er? Ich will ihn sehen!“

Erich erhielt zwei Riesen-Ohrfeigen. Daran erinnerte er sich noch ganz genau, während er diese Szene in allen Details meiner jungen Frau erzählte, als wir uns nach dem Krieg in Lyon wiedersahen.

Welch bedauerliche Dummheit meinerseits, zu vergessen, dass wir uns nicht in einer zivilisierten Welt befanden!

Am Abend des 31. Dezember 1944 kam ein illusteres Publikum zusammen, um einem Schauspiel mit surrealistischen Zügen beizuwohnen. Vorne saßen die SS-Leute in ihren makellosen Uniformen, dahinter unsere Kameraden, die neugierig und ängstlich zugleich waren.

Erich eröffnete den Abend mit einer kleinen, höchst gewagten Geschichte, die er leicht berlinernd vortrug. Er bewies ungeheuren Mut.

„Ein Spatz saß vor Kälte und Hunger zitternd auf einem Ast. Da kam ein Pferd vorbei und ließ einen großen, warmen Haufen Pferdeäpfel fallen. Voller Glück stürzte sich der Spatz mitten hinein und begann zu picken und sich aufzuwärmen. Er zwitscherte und trällerte. So wurde ein Falke aufmerksam, flog herbei und verschlang den Spatz.

Aus der Geschichte lassen sich mehrere Lehren ziehen:

A) Der, der dich in die Scheiße bringt, ist nicht unbedingt ein Feind!

B) Der, der dich herausholt, ist nicht notwendigerweise ein Freund!

C) Aber eins ist sicher: wenn man bis zum Hals in der Scheiße sitzt, sollte man nicht singen!“

Merkwürdigerweise kam von unseren Wächtern keinerlei Reaktion, dabei ist diese Geschichte, die vor der SS erzählt wurde, wahrscheinlich einzigartig in den Annalen der Deportation und der Shoah. Sie wurde später ein Klassiker, obwohl Erich Altmann sie in seinem Erinnerungsbericht (Im Angesicht des Todes, Luxemburg 1947) nicht erwähnt.

Se’ew und ich sangen auf hebräisch ein bekanntes zionistisches Lied:

„Ba-a menucha la-jagä-a...“ (Den Erschöpften wird es wohlergehen...)

Zum großen Glück wurde keine Übersetzung angefordert.

Gilbert Michlin, einer unserer Freunde, rezitierte aus dem Gedächtnis die berühmte Rede der Hauptfigur Harpagon aus dem Stück „Der Geizige“ von Molière.

Die Veranstaltung verlief ruhig, was für unsere Wachen ungewöhnlich war. Dachten sie darüber nach, dass der Abend bewies, wie sehr sich unsere Stimmung verbessert hatte?