Rückkehr nach Frankreich
 

Unsere Reise in Richtung Odessa dauerte fast acht Tage und war ziemlich unbequem. In dem schaukelnden russischem Militärzug fühlte ich mich todmüde. So suchte ich Zuflucht im Schlaf, bis wir endlich ankamen. Erschöpft und mit den Gedanken ganz woanders, habe ich von der Stadt absolut nichts gesehen.

Im Gegensatz zu dem völlig unorganisierten Empfang in Krakau, war hier unsere Ankunft gut organisiert. Wir wurden bequem untergebracht und gut verpflegt. Zu meinem größten Vergnügen, konnte ich eine warme Dusche nehmen und mich mit richtiger Seife waschen. Das war etwas, was ich schon fast vergessen hatte. Ich konnte so lange wie ich wollte, das warme Wasser über meinen Körper rieseln lassen. Welch eine Wohltat!

Das einzige Ärgernis, und zwar nicht das geringste, war, dass während dieser so angenehmen Momente die Taschen meiner Kleidung von den aufsichtführenden Russen geleert wurden. Ich war wütend, dass ich das bisschen Geld, das ich noch aus Krakau besaß, in den Klamotten gelassen hatte. Ich fluchte, weil ich jetzt wieder völlig ohne Geld da stand.

Zum Abschluss des Abends wurden wir nach dem Essen in die Oper eingeladen. Für mich war das eine Premiere...

Am nächsten Tag gingen wir an Bord eines englischen Kriegsschiffes, das Kurs auf Frankreich nahm. Das Essen war gut und reichlich, aber wegen der Seekrankheit hatte ich nicht viel davon. Nicht das es mit an Appetit gefehlt hätte!

Auf der Brücke konnte ich mich in die unendlichen Weiten des Raumes versenken, die klare, reine Luft tief in meine Lungen strömen und mich vom Wind streicheln lassen. Nachts träumte ich unter einem sternübersäten Himmel. Meine Wiedergeburt begann.

Wir hielten uns entlang der Küsten des Schwarzen Meeres, durchfuhren die Dardanellen und etwas später schon hatten wir den Blick auf die Bucht von Neapel. Es wurde meine erste und völlig unerwartete Kreuzfahrt.

Endlich gingen wir am 1. Mai 1945 in Marseille von Bord. In der Zwischenzeit hatte ich dem Offizier unserer Begleitmannschaft vergeblich zu erklären versucht, warum ich eine falsche Identität angenommen hatte. Bei der Ankunft ließ er mich als Verdächtigen von zwei Polizisten abführen. Ein bedauerlicher Vorfall, der meiner Freude angesichts der Rückkehr einen großen Dämpfer verpasste. Er rief unangenehme Erinnerungen wach. Um meine Herkunft zu kontrollieren, wandten sich die Behörden an das Jüdische Hilfskomitee. Ich bat schlicht und einfach um ein Gebetbuch. Durch einen Riesenzufall, schlug ich es bei einem der Psalmen König Davids auf. Ich rezitierte auf hebräisch aus dem 133. Psalm, der die brüderliche Eintracht segnet:

„Sieh an, wie gut, wie schön, wenn Brüder so mitsammen weilen.“

Der Mann, der mir beim Lesen zuhörte, fuhr im Text fort, indem er den Segen aussprach, welchen ich so oft von meiner Großmutter gehört hatte:

„Hatzlacha u-b’racha. Schalom alejchem“ (Glück und Segen. Frieden sei mit Dir!).

Nach einer kurzen medizinischen Untersuchung erhielt ich eine Fahrkarte, etwas Geld und konnte in mein Dorf Revel zurückkehren.

Die Strecke zwischen Marseille und Revel erschien mit endlos. Meine Gedanken wanderten: Und wenn durch ein irrwitziges Wunder Erika noch am Leben wäre? Eine wenig wahrscheinliche Möglichkeit! Aber als Ausgleich würde ich bestimmt meinen Vater wiederfinden. Er wäre alt geworden und durch seine Krankheit und die Unsicherheit über unser Schicksal geschwächt. Aber er würde da sein! Er würde mich auf dem Bahnsteig erwarten.

Bei unserer Trennung hatte ich zum ersten Mal gesehen, wie ihm die Tränen aus den Augen flossen. Heute noch würde er vor Freude weinen und mich in die Arme schließen. Ich war ungeduldig und wollte unbedingt die väterliche Liebe und die Sicherheit wiederfinden, der man mich in den letzten Jahren so grausam beraubt hatte.

Hinter den Scheiben zog die vertraute und friedvolle Landschaft in strahlendem Sonnenschein vorbei. Eingehüllt in die sanfte Wärme wanderte mein Geist in der Zeit zurück. Mit dem gleichmäßigem Rhythmus der Schienen kehrte die Erinnerung an meine ersten Kontakte mit Frankreich wieder: den so großzügigen Empfang, das trügerische Gefühl einen sicheren und geschützten Ort gefunden zu haben - aber auch den Verrat.

Kaum war der Zug in Revel angekommen, suchte ich überall nach meinem Vater. In meine große Enttäuschung mischte sich Unruhe. Ich wartete nicht lange, sondern ging direkt nach Padouvenc Notre Dame, den Ortsteil, in dem die meisten meiner Freunde wohnten. Louisette Crayol war zu Hause. Meine Ankunft schien sie nicht grundsätzlich zu überraschen: die Bürgermeisterei hatte zwar meine Befreiung bekannt gegeben, jedoch nicht den genauen Tag meiner Rückkehr.

Sie sah abgespannt aus. Durch ihren traurigen Blick, die liebevolle Art und Weise, in der sie mir ihre Arme um meine Schultern legte, begriff ich, dass Papa nicht mehr in dieser Welt weilte. Mit sanften und zärtlichen Worten erzählte sie mir von den Umständen seines Todes.

Einige Wochen nach unserer Abfahrt wurde mein Vater aus dem Lager Noé entlassen und nach seiner Rückkehr nach Revel in das Krankenhaus eingewiesen. Er wusste wahrscheinlich von der Existenz der Vernichtungslager, außerdem gab er es auf, für seine Gesundheit zu sorgen, die sehr schnell verfiel.

Louisette Crayol versicherte mir, dass sich die Freunde sehr um ihn gekümmert hätten. Aber sie musste natürlich verdrängen, dass eine religiös überzeugte Schwester ihn gezwungen hatte das Ave Maria aufzusagen, damit er im Krankenhaus ein zweites Glas Milch bekam! Diese Einzelheit erfuhr ich von meinem Freund Jules, Sohn einer jüdischen Familie, die während des Krieges in Revel hatte bleiben können, als ich ihn nach meiner Rückkehr wiedertraf. Das Gefühl der Erniedrigung, das dieser Vorfall in ihm hervorgerufen hatte, war noch so lebendig wie am ersten Tag. Über das Verhalten dieser Frau bin ich immer noch tief empört.

Jules Vater wurde verhaftet und mit dem letzten Transport im Juli 1944 deportiert. Seine Mutter, die wenig später starb, hinterließ zwei Waisen im Kindesalter. Jules, der eigentlich Agnostiker ist, legte in Erinnerung an seinen Vater ein Gelübde ab: Er rauchte Samstags (am Sabbat) nicht. Dies war keine religiöse Geste. Es war rein symbolisch.

In Erinnerung an den Vater Samstags nicht zu rauchen liegt auf der gleichen Ebene, wie man sich weiter Jude nennen und den jüdischen Namen weitertragen kann, obwohl man den Glauben verloren hat. Nach Auschwitz Jude zu sein bedeutet nicht notwendigerweise an Gott zu glauben oder seine Gebote zu befolgen. Es bedeutet bewusst zu leben; es bedeutet sich zu erinnern. In Auschwitz ging es nicht nur um ein Volk das Hitler vernichten wollte, genauso wenig wie es „einfach“ um eine „Religion ging, es ging um die Vernichtung dessen, was den Menschen ausmacht.

Langsam gingen Louisette Crayol und ich auf den Friedhof. Ein kleines Brettchen war in die Erde des Grabes meines Vaters gesteckt worden. Darauf standen sein Name und sein Todesdatum.

Ich war zwanzig Jahre alt, und ich war Vollwaise. Ganz allein und auf mich gestellt musste ich nun den schwierigen Weg des Lebens beschreiten. Angesichts des Todes der Eltern hört man auf ein Kind zu sein, man wird erwachsen. Ich hatte diese wichtige Etappe bereits durch meinen Aufenthalt im Lager überwunden.

Meine Freunde trösteten mich durch ihre Fürsorglichkeit. Ganz besonders betraf das die Familie Brunel, die damals auf einem größeren Bauernhof wohnte. Die freundliche Elise bestand darauf, mir reichlich von ihrem leckeren Eintopf aufzutun und von ihrer Gänseleber anzubieten. Es war ihre Art und Weise meiner Trauer zu begegnen. Die Lebensmittelrationierung war noch nicht aufgehoben worden und obwohl mir zu meiner Rückkehr von der Bürgermeisterei ein Ferkel geschenkt worden war, nahm ich natürlich ihr Angebot mit Freuden an. Das Ferkel schenkte ich den Brunels, weil ich damit nichts anzufangen wusste.

Der wunderschöne Mai beschleunigte meine Rückkehr in das Leben. Angesichts der blühenden Natur öffnete ich mich der Welt. Alles löste in mir Staunen aus, ich war hingerissen. Die Sonne dieses Sommerbeginns, wärmte endlich wieder meine Haut. Ich hatte die Freude an den kleinen Dingen des Lebens verloren. Schritt für Schritt lernte ich sie wieder zu erobern.

In Revel hatte mich Louisette Crayol bei sich aufgenommen und ich fühlte mich etwas wie eines der Kinder, die sie und ihr Mann adoptiert hatten. Eines Morgens kam unerwartet Herr Vigne zu Besuch. Er hatte von meiner Rückkehr erfahren und kam aus St. Gaudens, das etwa einhundert Kilometer von Revel entfernt liegt. Ohne große Umstände wollte er mir einige Wertgegenstände und die persönlichen Sachen meines Vaters übergeben. Mein Vater, der ihn ab und an besuchte, hatte sie ihm anvertraut, als er sich immer schlechter fühlte. Herr Vigne war Buchhalter in der Brennerei von Revel, wo Erika gearbeitet hatte. Er war ihr gegenüber immer sehr freundlich gewesen.

Mit ihm kam eine vergangene Zeit mit einer ganzen Reihe von Erinnerungen zurück. Welches unbeschreibliche Gefühl die Gebetsriemen meines Vater wieder in der Hand zu halten, meine eigenen, die ich zur Bar Mitzwa bekommen hatte, sein stark abgenutztes Gebetbuch und meine berühmte Briefmarkensammlung. Das Anfassen dieser vertrauten Dinge versetzte mich für einige Augenblicke wieder in den Schoß meiner Familie zurück...

Nach allen diesen Jahren fürchte ich manchmal, dass ich Herrn Vigne damals nicht genug gedankt habe: für seinen vorbildlichen Takt, seine Güte und seine Ehrlichkeit. So lange hatte er die Gegenstände aufbewahrt, die für mich einen unschätzbaren Wert hatten und von denen keiner wusste, dass er sie hatte. Welch eine Lektion in Zurückhaltung!

Noch einmal pilgerte ich die Wege entlang, auf denen ich einst mit meinen Eltern und Erika spazieren gegangen war. Schließlich musste ich daran denken Revel zu verlassen. Es sollte kein Abschied für immer sein, zu sehr war ich mit dem Ort verbunden.

Ich beschloss nach Toulouse zu gehen, der nächstgrößeren Stadt. Dort blieb ich bis 1946.

Kaum angekommen, nahm ich mit den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde Verbindung auf. Sie gaben mir die Möglichkeit junge Leute meines Alters zu treffen und mit zwanzig Jahren wieder Geschmack am Leben zu finden.

Von meinen neuen Freunden erfuhr ich die Einzelheiten der Tragödie, die die Juden in Frankreich und anderen europäischen Länder erlitten hatten, während ich drei Jahre lang abwesend gewesen war. Sechs Millionen Tote, darunter eine Million Fünfhunderttausend verschwundene, vernichtete oder ermordete Kinder.

Ich erfuhr auch, dass es in Frankreich die OJC (Organisation Juif de Combat – Jüdische Kampforganisation) gegeben hatte. Sie war eine unter anderen Widerstandsorganisation gewesen, bestand aber ausschließlich aus Juden. Außer den Kämpfen, die sie sich mit den Besatzern lieferten, beschäftigten sich diese Widerstandskämpfer damit jüdische Kinder in Frankreich in sicheren Verstecken unterzubringen oder sie illegal in die Schweiz zu schaffen. Diese Widerstandskämpfer trugen auch zur Befreiung der Stadt Castres bei.

Mit Stolz vernahm ich, dass es innerhalb der britischen Armee eine „Jüdische Brigade“ gegeben hatte, die sich aus Freiwilligen aus Palästina zusammensetzte und die auf Seiten der Alliierten gekämpft hatten.

Überwältigt hörte ich, wie sich dank einer handvoll junger Juden das Warschauer Ghetto erhoben hatte, nachdem die Mehrheit der Bewohner bereits ausgelöscht worden war. Diese jungen Leute kämpften mit entschlossenem Mut gegen die Panzer und Flammenwerfer der SS und der Wehrmacht. Diese gnadenlose Schlacht dauerte trotz des Ungleichgewichts der vorhandenen Kräfte mehrere Wochen. Ihr hoffnungsloser Kampf war umso heldenhafter, als dass das Ergebnis aus nichts anderem als dem eigenen Tod bestehen konnte.

Mit Erleichterung bekam ich schließlich Nachricht von einigen Kameraden aus Bobrek, die erfreulicherweise überlebt hatten. Sie hatten noch vieles zu erleiden gehabt, was mit durch meine Flucht erspart geblieben war.

Nach der langen Unterbrechung meiner Ausbildung gewährte man mir 1945 ein kleines, aber ausreichendem Stipendium, das mir erlaubte, am Elektrotechnischen Institut von Toulouse neu zu beginnen. Ich verließ diese Ausbildungsstätte nach meinem ersten Studienjahr, um in Paris weiter zu studieren.

Bald nahm ich Kontakt zur Zionistischen Jugendbewegung auf. Während des Schuljahres wurde ich nach Basel geschickt. Man hatte mich zum Ordner auf dem Zionistischen Kongress im Jahre 1946 bestimmt, der der letzte in der langen Reihe vieler solcher Kongresse werden sollte. So hatte ich die besondere Ehre viele der zionistischen Führer aus der ganzen Welt zu treffen. Chaim Weizmann, Ben Gurion, Golda Meïr... große Namen in der Geschichte eines Staates, der im Entstehen begriffen war und als Land doch schon so alt.

Die spätere israelische Flagge mit dem Davidstern, die über dem Gebäude wehte, hatte den Judenstern, der auf unsere Kleider genäht werden musste, ersetzt. Nach der Erniedrigung gelang die Wiederauferstehung. Der Hauptpunkt auf der Tagesordnung war der Vorschlag der Vereinten Nationen bezüglich der Aufteilung Palästinas zwischen Juden und Arabern, wie sie die Mehrheit der 56 Staaten, die bei dieser Versammlung vertreten gewesen waren, bestätigt hatte. Die Juden nahmen den Vorschlag an, während die Araber ihn zurückwiesen. Bald nach dem Abzug der Engländer wurde der Staat Israel ausgerufen: am 14. Mai 1948.

Für alle Juden außerhalb Palästinas stellte die Gründung des Staates Israel einen Wendepunkt in der Geschichte dar, ob sie sich nun entschieden dort zu leben oder nicht. Dieser Staat garantierte ihnen endlich eine sichere Zuflucht - nach allen den unzähligen Erniedrigungen, die sie im Laufe der Jahrhunderte erlitten hatten. Ich war seit meiner Jugend in Wien Zionist und so fühle ich mich immer noch etwas schuldig und enttäuscht, dass ich faktisch nicht viel zu der Entstehung und Entwicklung des Staates Israel beitragen konnte. Aber das Schicksal wollte es mal wieder anders...