Verhaftung und Deportation

 

Am 25. August 1942 tauchte überraschend Norbert Sperber, der ältere Bruder meines Freundes Isidor aus Castres, bei uns auf. Sein Bruder war am frühen morgen von Polizisten festgenommen worden! Zufällig war er selber nicht zu Hause gewesen und seine Eltern, man weiß nicht warum, waren nicht weiter belästigt worden. Unter den Vermutungen, die wir anstellten, war die, dass man Isidor mitgenommen hatte, um gemeinsam mit einem Kontingent von Jüngeren zum Bau des berühmten Atlantikwalls beizutragen, von dem wir reden gehört hatten. Tatsächlich wollten wir uns einreden, dass wir im nicht besetzten Teil Frankreichs in Sicherheit waren.

Dieser Illusion wurden wir schnell beraubt, denn im Morgengrauen des nächsten Tages, am Mittwoch, dem 26. August 1942, klopften Polizisten lautstark an unsere Tür. Norbert hatte in unserem Haus geschlafen. Mein Vater gab uns ein Zeichen zu der Tür, die auf den Hof führte, hastig schlüpften wir hinaus. Wir blieben für einen langen Augenblick hinter einem Mäuerchen versteckt und als wir sahen, dass die Polizisten nicht wieder gingen, flohen wir durch eine Hintertür. Zufällig lag das Haus an einer Straßenecke und hatte zwei Ausgänge.

Es war mir nicht klar, dass die Polizisten warteten, während sich meine Eltern und meine Schwester fertig machten, um mitgenommen zu werden.

Norbert fuhr mit dem Bus nach Hause, während ich weiter lief, um an die Tür eines Offiziers im Ruhestand zu klopfen. In seiner Uniform hatte der Major durch seine Haltung beeindruckt. Ich wusste, dass er Anhänger de Gaulles war und dachte naiv, dass ich mit seiner Hilfe rechnen könnte. Mein Vater betrachte ihn als einen Freund und ging zu ihm, um Radio London zu hören. Ich hatte keine Ahnung in welcher Sprache sie sich verständigten, mein Vater sprach kein Französisch.

Lange läutete ich an seiner Tür. Entgegen meiner Erwartung blieb sie verschlossen. Wohl hörte ich Schritte hinter der Tür! Wusste er, warum ich so hartnäckig blieb? Aus welchem Grund weigerte er sich mir zur Hilfe zu kommen? Ich habe keinen blassen Schimmer! In diesem Moment wäre er keinerlei Risiko eingegangen. Gaullist zu sein, schien allerdings seine einzige Qualität auszumachen. Nach der Befreiung erfuhr ich, dass er der Verantwortliche des örtlichen Widerstandes geworden war! Welche Ironie! Soweit es mich betraf, hat er einen großen Mangel an Mut und an Solidarität offenbart.

Ich war gezwungen, einen großen Umweg zu machen, da sein Haus an das der Polizeidienststelle angrenzte. Ich wandte mich nun an Dr. Ricalens, da ich zu unseren Freunden Brunel, Louisette Crayol oder Pauline Sarda in Padouvenc-Notre-Dame nicht gehen konnte, unsere guten Beziehungen waren zu bekannt. Nur der Arzt konnte zu meinem Vater gelangen, ohne Verdacht zu erregen. Er besaß ein Auto, was zu der Zeit selten war, und hätte mich vielleicht zu einem Versteck fahren können.

Die Hausangestellte sagte mir, dass Dr. Ricalens, trotz der frühen Morgenstunde, bereits bei einem seiner Kranken war. Verzweifelt, voller Angst und nicht wissend, wohin ich nun gehen sollte, bat ich in dem Vorraum bleiben zu dürfen, der auch als Wartesaal diente. Plötzlich ließ mich die Türklingel zusammenfahren. Statt mich zu verstecken, öffnete ich ohne nachzudenken die Tür und befand mich Auge in Auge mit den Polizisten, die den Arzt in meiner Angelegenheit sprechen wollten. Einer der Polizisten fragte herausfordernd:

„Wie heißt du?“

„Paul.“

„Paul und wie weiter?“

„Schaffer!“

„Die ganze Zeit rennen wir dir hinterher. Du bist verhaftet. Deine Eltern haben wir auch festgenommen. Sie sind schon weit weg.“

Natürlich war ich zutiefst erschrocken und ich verstand nicht, was mit uns geschah. Tatsächlich war es der Beginn der Razzien in der „freien Zone“.

Mein Fluchtversuch war jedenfalls beendet. Man hielt mich wie einen Verbrecher an den Handgelenken fest. Rot vor Scham hatte ich so das Dorf zu durchqueren. Ob sich die, die diese Szene mitbekamen vorstellen konnten, dass meine Verhaftung auf die einzige Tatsache zurückzuführen war, dass ich als Jude geboren worden war?

Die Verbissenheit dieser Polizisten einen jungen Flüchtling einzufangen, erscheint heute unverständlich. Ein bisschen Güte, ein wenig Menschlichkeit ihrerseits und mein Schicksal wäre ein völlig anderes gewesen...

Erst 1997 erfuhr ich aus Akten im Archiv von Toulouse, die erst nach fünfzig Jahren für die Öffentlichkeit zugänglich geworden waren, dass der Polizeichef von Revel, der wegen der Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern und auch wegen seiner Beteiligung an meiner Festnahme angeklagt worden war, während seines Prozesses eine infame Lüge in die Welt gesetzt hatte. Er behauptete, dass Dr. Ricalens mich 1942, als ich mich bei ihm versteckten wollte, angezeigt hätte. Dieser niederträchtige Büttel wusste, dass der Arzt tot war, und so konnte er sich erlauben, ihn zu beschuldigen.

Der Tod des Arztes hatte seinerzeit große Aufmerksamkeit erregt. Einige Tage vor dem Kriegsende in Frankreich im Juli 1944 wollten die Partisanen aus der Umgebung den Nationalfeiertag in Revel feiern. Sie besetzten die Stadt und errichteten Absperrungen auf allen Straßen in der Umgebung. Roger Ricalens kam am frühen Morgen von einem Kranken zurück. Weil er dachte, es mit Angehörigen der Miliz zu tun zu haben, durchbrach er eine der Sperren und wurde am Steuer seines Wagens von seinen eigenen Kameraden getötet. Eine Straße in Revel trägt seinen Namen und ein Mahnmal ist an der Stelle aufgestellt worden, an der das Drama stattgefunden hat.

Als ich von der falschen Zeugenaussage erfuhr, mit der die Familie des Arztes unter unberechtigten Verdacht geraten könnte, habe ich mich 1998 ganz bewusst zu der Kundgebung zum Jahrestag des Todes von Dr. Roger Ricalens nach Revel begeben. Ich habe am Fuße seines Mahnmals einen Blumenstrauß niedergelegt und mit meiner Anwesenheit das Vertrauen und die Anerkennung demonstriert, die ich dem Verstorbenen entgegenbringe.

Als „Entschuldigung“ für sein Verhalten mir, meiner Familie und den anderen Juden gegenüber, brachte der ehemalige Polizeichef übrigens bei seinem Prozess nur die am häufigsten gebrauchte Entschuldigung bei:

„Ich habe nur meine Pflicht getan; ich habe Befehle ausgeführt.“

Die „Pflicht“ hatte damals so ausgesehen, dass er und ein weiterer Polizist mich mit einem Auto, in dem ich zwischen den beiden Polizisten fest eingekeilt war, zu dem Gefangenentransporter brachten, der bereits zehn Kilometer weiter war, in St. Julia. In ihm befanden sich nun schon andere jüdische Familien aus der Umgebung, auch unsere Freunde die Bergers und ihre drei kleinen Kinder, darunter Susi, die erst drei Jahre alt war. Susi mit ihrem blonden Lockenköpfchen war ein ausgesprochen niedliches kleines Mädchen.

Meine Eltern waren bestürzt, mich zu sehen. Sie hatten so gehofft, dass es mir gelungen war zu entfliehen! Nachdem sie ihre traurige Aufgabe erfüllt hatten, fuhren uns die Polizisten in das Lager „Noé“ in der Nähe von Toulouse.

Tief niedergeschlagen blieben alle stumm. Die eiskalte und bösartige Empfangsrede des Lagerkommandanten, der uns ankündigte, dass auf alle Personen, die flüchten wollten, ohne Anruf geschossen werden würde, tat ihr übriges, um uns weiter zu entmutigen. Die Frauen wurden von den Männern getrennt.

Ich saß auf der Pritsche neben meinem Vater, erzählte ihm von den Umständen meiner Festnahme und den Gründen, warum ich bei Doktor Ricalens um Hilfe gesucht hatte. Die Hartherzigkeit der Polizisten, die mich nicht einmal nach Hause ließen, um mir etwas zum Anziehen zu holen, ist unglaublich. Bei meiner Flucht hatte ich mir hastig eine Hose und eine Jacke über den Schlafanzug gezogen, ohne die Zeit Socken anzuziehen und meine Tefillin (Gebetsriemen — zwei Lederstreifen mit je einem kleinen Kästchen, die Pergamentstücke mit Inschriften aus der Tora enthalten, und die beim Morgengebet ‑ außer am Samstag ‑ so befestigt werden, dass das eine auf der Stirn und das andere auf dem linken Arm zu liegen kommt) mitnehmen zu können. An den Tefellin hing ich besonders. Seit unserer Abreise aus Wien, führte ich täglich meine Gebete aus, gemäß des Versprechens, das ich anläßlich meiner Bar-Mitzwah gegeben hatte.

Ein alter Mann, der Zeuge meines Berichtes wurde, bat mir mit einem milden Lächeln seine Tefillin an. Ich habe sie bis in das Lager Tarnowitz gehütet und während der ersten zwei Monate habe ich früh am Morgen heimlich gebetet. Bis zu dem Tag, als bei einer Kontrolle ein Kapo sie unter meiner Matratze gefunden hat und sie mit Wut und Abscheu gegen die Mauer schleuderte, während er mich mit wüsten Beschimpfungen überschüttete.

Papa erklärte mir, dass Erika gegenüber den Polizisten darauf bestanden hatte, dass man Doktor Ricalens riefe, damit der bestätigen könne, dass Papa zu krank sei, um ihn zu verhaften. Sie handelte sich eine unbedingte Abfuhr ein, erregte aber durch ihr Verhalten wahrscheinlich den Verdacht der Polizisten, das etwas nicht in Ordnung wäre. Sie fühlten in meinem Bett nach und fanden heraus, dass es noch warm war, woraus sie die Schlussfolgerung zogen, dass ich gerade erst entwischt war.

In der ersten Nacht in Noé öffnete sich mein Pritschennachbar die Pulsadern. Das Geräusch der Blutstropfen, die in regelmäßigem Abstand auf den Boden fielen, weckte mich. Ich war vor Entsetzen wie gelähmt. Der Ernst unserer Lage wurde mir schlagartig bewusst.

Der Ärmste, der sich nur noch auf diese Weise retten konnte, war gemeinsam mit uns deportiert worden. Am anderen Morgen wurden die Namen der Personen angekündigt, die für Drancy bestimmt waren. Nur Erika und ich waren auf der Liste, mein Vater war endlich als nicht transportfähig anerkannt worden, und meine Mutter durfte bei ihm bleiben.

Welch eine Zwangslage für eine Mutter, wählen zu müssen, ob sie ihre Kinder alleine ins Ungewisse fahren oder ihren kranken Ehemann verlassen soll! Unter Tränen ermutigte mein Vater seine Frau, uns zu begleiten. Diese tragische Trennung bleibt eine unvergessliche Erinnerung. Meinen Vater zum ersten Mal weinen zu sehen, wurde für mich zu einem unbeschreiblichen und anhaltendem Kümmernis. Immer noch – trotz all der Jahre – meine ich seine Umarmung zu spüren, diese Umarmung, die die letzte bleiben sollte.

Mit einer unendlichen Zärtlichkeit wickelte er mich in seinen Mantel, der für mich reichlich groß war und sagte:

„Dort, wo du hin gehst, Paulchen, wirst du ihn sicher dringender brauchen als ich!“

Am 1. September 1942 zogen 170 Personen, immer unter der Bewachung von Polizisten, von Noé zum Bahnhof von Portet-sur-Garonne. Dieser Fußmarsch von einigen Kilometern wurde beschwerlich, besonders für die älteren Menschen und die Mütter, die ihre Säuglinge auf den Armen trugen. Es ist undenkbar sich vorzustellen, dass das Jammern und Wehklagen dieses menschlichen Leidenszuges die Augenzeugen gleichgültig gelassen haben können.

Als man ihm von den Leiden berichtete, die die „Geächteten“ ertragen mussten, verfasste der Erzbischof von Toulouse, Jules-Giraud Saliège Anfang September 1942, also fast zum gleichen Zeitpunkt, einen bewegenden Hirtenbrief, der in allen Kirchen seiner Diözese verlesen wurde. Hier der Inhalt:

„Meine sehr lieben Brüder!

Es gibt eine christliche Moral, es gibt eine menschliche Moral, die Pflichten auferlegt und Rechte anerkennt. Diese Rechte und Pflichten liegen in der Natur des Menschen: sie kommen von Gott. Man kann sie verletzen. Es liegt aber nicht in der Macht  eines menschlichen Wesens sie aufzuheben.

Dass Kinder, Frauen, Männer, Väter und Mütter wie eine gewöhnliche Viehherde behandelt werden, dass die Mitglieder einer Familie voneinander getrennt und an ein unbekanntes Ziel verschickt werden, dieses traurige Schauspiel mitzuerleben, blieb unserer Zeit vorbehalten. Warum gibt es das Asylrecht in unseren Kirchen nicht mehr?

Warum sind wir die Besiegten?

Herr, habe Mitleid mit uns.

Heilige Mutter Gottes, bete für Frankreich.

In unsere Diözese haben sich in den Lagern von Noé und Recebedou schreckliche Szenen abgespielt. Juden sind Männer; Juden sind Frauen. Ausländer sind Männer; Ausländer sind Frauen. Ihnen gegenüber ist nicht alles erlaubt, gegenüber diesen Männern, gegenüber diesen Frauen, gegenüber diesen Familienvätern und Familienmüttern. Sie sind Teil der Gattung Mensch. Sie sind unsere Brüder wie alle anderen auch. Ein Christ kann das nicht vergessen.

Frankreich, geliebtes Vaterland, Frankreich, das Du in dem Gewissen aller Deiner Kinder die Tradition der Achtung vor dem Wesen des Menschen trägst, ritterliches und großzügiges Frankreich, ich zweifle nicht daran, dass Du nicht verantwortlich für diese Fehler bist. Ich sende Euch, meine lieben Brüder, meine aufrichtigen Grüße.“

„Wie eine gewöhnliche Viehherde behandelt.“

„An ein unbekanntes Ziel verschickt.“

Schon allein diese beiden Satzteile lassen keinerlei Zweifel zu: es gab Franzosen, die ganz genau wussten, in welcher heiklen Lage sich die Juden in Frankreich befanden!

Man sah die Bedeutung und den Einfluss, den die Verlesung dieses zutiefst menschliche Zeugnisses in den Kirchen haben konnte. So wurde befohlen die „Festgenommenen“ heimlich in der Nacht durch die Dörfer zu schicken. Dieses minderte in Nichts das Leiden der Familien und die Schuld der Verantwortlichen.

Am 8., 10., 24. August und am 1. September 1942 wurden insgesamt 742 Personen aus dem Lager Noé deportiert. In meinem Transport waren 48 Kinder und Jugendliche unter achtzehn Jahren. Vierzig Jahre später, bin ich nach Portet-sur-Garonne gefahren, um eine Stele einzuweihen, die an diese jungen Menschen erinnern soll, von denen ich mittlerweile der einzige Überlebende bin. Es wurde langsam Zeit!

Nach einer Nacht im Zug kamen wir erschöpft in Paris an. Unter Bewachung Pariser Polizeibeamter stiegen wir in Busse ein und wurden nach Drancy, einem Ort in der unmittelbaren Nähe der Hauptstadt gefahren. Zu ihrer eigenen Schande versuchten einige Polizisten uns unterwegs einzureden, dass wir ihnen besser das Geld und andere Wertgegenstände, die wir bei uns trugen, aushändigen sollten.

„Dort, wo ihr hingeht, werden die Deutschen euch alles nehmen.“

Tatsächlich, als wir in Drancy ankamen, wurden alle Güter von Beamten beschlagnahmt — allerdings gegen Quittung... In Frankreich mussten die ausgeraubten Juden bis 1997 auf eine Entschädigung warten. Erst so spät gelang es der Kommission Matteoli die Frage des beschlagnahmten jüdischen Besitzes zu regeln.

Die "Cité de la Muette" in Drancy, eigentlich eine moderne Wohnanlage, wurde sehr schnell "Schrecken von Drancy" genannt. Das Gebäude war in der Form eines großen "U" gebaut worden. Die Deutschen hatten es im Juni 1940 beschlagnahmt und ein Sammel- und Durchgangslager in der Art eines Konzentrationslagers daraus gemacht. Wir blieben dort nur drei Tage, aber das war mehr als genug, um das Ausmaß des Unheils zu begreifen. Ein Gerücht machte glaubhaft, dass wir alle von einem Tag auf den anderen in ein Arbeitslager in einem osteuropäischen Land geschickt werden würden. Ironisch wurde dieser Ort "Pitchipoi", nach dem Wolkenkuckucksheim der ostjüdischen Folklore genannt.

Die Luft in Drancy konnte man nicht atmen, Hygiene gab es nicht und das Essen war widerlich. Die Frauen, die Männer, die Kinder, die Alten und die Kranken waren alle in den gleichen Zimmern unterbebracht. Sie lagen oder saßen auf Stroh.

In den Treppenhäusern vereinigten sich Männern und Frauen ein letztes Mal, ohne die Regeln des Anstands noch zu beachten, wie eine Herausforderung an das Schicksal. Ich war sehr schamhaft und so erinnere ich mich, wie sehr mich der Anblick damals schockierte. Heute verstehe ich das und empfinde Mitleid für diese Liebesakte, die in einer Situation der Hoffnungslosigkeit und der nahen Gegenwart des Todes stattfanden.

Erika hatte Schwierigkeiten, die widerwärtige Suppe herunterzubekommen, die es als Abendessen gab. Ich bestand darauf, dass sie etwas Nahrhaftes zu sich nahm. Sie sollte bei Kräften bleiben, um den Härten begegnen zu können, die zweifelsohne auf uns warteten. Mutter war überrascht und gerührt über die Ratschläge, die ich meiner älteren Schwester erteilte. Sie dachte wahrscheinlich daran, wie sehr ich von ihr verwöhnt und beschützt worden war. Durch die Emigration ging meine Kindheit in meine Jugendzeit über, durch die Deportation sollte ich vor der Zeit erwachsen werden.

In Drancy, dem Vorzimmer des Todes, dem Beginn des Abstieges in die Hölle, waren die Wände mit Kritzeleien bedeckt: sie zeugten vom Aufbegehren, dem Aufgeben, der Liebe und manchmal sogar von überwältigendem Mut. Sie richteten sich an die Lieben, die Aufgegebenen und die, die ohne Nachricht blieben.

Zwei der Inschriften haben sich mir eingeprägt und blieben bis heute in meinem Gedächtnis:

"Man kommt, man schreit, das ist das Leben. Man schreit, man geht, das ist der Tod."

Die zweite war wie ein Leuchtfeuer der Hoffnung, und sie hat mir oft die Kraft wiedergegeben weiterzukämpfen, sogar in unerträglichen Augenblicken:

"Wenn es nichts mehr zu hoffen gibt, dann darf man nicht verzweifeln."

Die Hoffnung ist die letzte Pflicht, wenn kein Hoffnungsschimmer am Horizont mehr zu erkennen ist.

Am 4. September 1942 um 8.55 Uhr verließen Mutter, Erika und ich mit dem Zug D 901/23 vom Bahnhof Bourget das Lager Drancy. Unsere Namen befinden sich auf der Transportliste Nr. 28 aus Frankreich. Das Ziel war uns nicht bekannt. In dem Zug waren laut der Liste 918 Menschen. Als man 1945 nach Überlebenden suchte, fand man nur fünfundzwanzig Männer und zwei Frauen.

In unserem verschlossenen Waggon, der für „8 Pferde oder 40 Menschen“ zugelassen war, befanden sich etwa 70 Personen, Frauen, Kinder aller Altersstufen, Männer, Alte und Behinderte. Einzige Luftzufuhr waren kleine vergitterte Öffnungen. Auf dem Boden lag ein wenig Stroh und in einer Ecke standen zwei Eimer. Der eine enthielt Trinkwasser, der andere, vor dem wir eine Decke als behelfsmäßigen Sichtschutz aufhängten, war für die natürlichen Bedürfnisse vorgesehen. Es wurde deutlich, dass unser Ziel kein Arbeitslager sein konnte, wie man uns hatte glauben machen wollen.

Die Fahrt erschien endlos und die Angst wurde nach und nach immer größer. In diesen schummrigen Waggons stank es derartig, dass man kaum atmen konnte. Ausgehungert, dem Verdursten nahe, weinten die Menschen, sie stöhnten und einige zitterten vor übersteigerter Aufregung. Später erfuhr ich, dass man bei der Ankunft vergleichbarer Transporte mitunter Dutzende von Toten zählte.

Wir befanden uns in einem Zustand völliger körperlicher und geistiger Erschöpfung, als der Zug auf dem platten Lande in der Nähe von Cosel anhielt. Das war in Oberschlesien, nicht mehr sehr weit von Auschwitz. Die Türen der Waggons wurden mit lautem Krach geöffnet. Hundegebell mischte sich mit dem Gebrüll der SS, die befahl, dass die arbeitsfähige Männer zwischen achtzehn und vierzig Jahren auf das Schotterbett springen sollten, etwa 1,5 Meter tief.

„Schnell, schnell. Raus!“

In dem Lärm und einer höllischen Panik wurden die Familien getrennt. Ich war noch nicht ganz achtzehn, wusste aber, dass ich keinerlei Hilfe für meine Mutter und meine Schwester sein konnte. Ich wollte nicht bei den Kindern und den alten Leuten bleiben und statt dessen zu den Männern. Ich musste mich aus den Armen meiner Mutter losreißen. Angesichts meiner Entschiedenheit gab sie endlich nach und drückte mich mit tränenüberströmten Gesicht noch einmal an sich. Dann legte sie mir als letztes Geschenk ihr Seidentuch um, das ich wie einen Schatz für eine ganze Weile hüten konnte. Unsere Trennung war ein wirkliches Auseinanderreißen.

Nicht alle Deportierten hatten den Vorzug ihre Lieben vor der endgültigen Trennung zu umarmen. Ich höre noch die Schreie und das Weinen der getrennten Familien. Das Gebrüll der SS, das Gebell der Hunde, ließen keine Zeit für lange Gefühlsausbrüche.

Dann fuhr der Zug ab und mit ihm Mutter und Erika. Glücklicherweise wusste ich damals nicht, welches Schicksal sie erwartete. Die schreckliche Wahrheit erfuhr ich erst später. Nach dem Halt in Cosel wurden sie direkt zu den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau gefahren.