Mein Leben nach der Deportation

 

Als ich 1948 meine Ausbildung in Paris beendet hatte, wurde ich als Lehrbeauftragter an einer Schule der ORT (Organisation, Reconstruction, Travail – Organisation, Wiederaufbau, Arbeit) in Lyon eingestellt. Endlich hatte ich meine erste richtige Arbeitsstelle und mein erstes Gehalt als Erwachsener. Das regelmäßige Einkommen ermöglichte mir einen lang gehegten Wunsch zu erfüllen: die Gründung einer eigenen Familie.

Noch in Toulouse hatte ich Jackie getroffen. 1945 war sie gerade erst fünfzehn Jahre alt, sie war sehr hübsch, anziehend und zauberhaft. Als Kind hatte sie einen Teil des Krieges in der Schweiz verbracht. Während ihrer Abwesenheit hatten sich ihr Vater und ihr Bruder dem Widerstand angeschlossen. Ihr achtzehnjähriger Bruder Serge befand sich in der Nähe von Grenoble im Maquis (im Untergrund).

Ihr Vater war 1944 in Nizza festgenommen und mit dem 69. Transport aus Frankreich über Drancy nach Auschwitz deportiert worden. Ihre Mutter, die vom Widerstand versteckt wurde, entging der Deportation nur knapp. Ein großer Teil der Familie verschwand während der Leidensjahre.

Lange Zeit zeigte Jackie jedem Überlebendem, den sie kennenlernte, das Photo ihres Vaters. Sie hatte die Hoffnung, dass einer von ihnen ihren Vater getroffen haben und ihr etwas Neues von ihm erzählen könnte. Ihr Vater kam nicht zurück. Sein Tod überließ die Heranwachsende einer schwierigen Trauerarbeit. Das Problem sich damit auseinandersetzen zu müssen, dass nahe Angehörige unter schrecklichen Umständen gestorben sind, hinterlässt unauslöschbare Spuren.

Jackie wurde die Gefährtin meines Lebens. Dank ihrer Liebe, ihrer natürlichen Fröhlichkeit, ihrer Sanftmut und der Gabe zuzuhören, gelang es ihr zunehmend, mir die Freude am Leben und vor allem mein inneres Gleichgewicht zurückzugeben. Stets bewies sie Verständnis und Geduld. Dies ist der Grund, warum ich sie nicht nur innig liebe, sondern ihr auch unendlich dankbar bin.

1948 ‑ im Jahr der Hochzeit ‑ wurde ich als Franzose eingebürgert. Meinen Militärdienst leistete ich 1950 beim 8. Fernmelderegiment. Es war ein kurzes Zwischenspiel, welches keine besonders angenehmen Erinnerungen zurückließ. Das lag an den materiellen Problemen, denen ich mich durch die Ableistung der Wehrpflicht gegenüber sah. Die Tätigkeit als Lehrbeauftragter, die ich vor dem Militär ausgeübt hatte, befriedigte mich völlig - trotz meines mageren Gehaltes. Aber ich hatte die feste Absicht, nach meiner Entlassung aus dem Dienst eine besser bezahlte Beschäftigung zu finden.

Jackie und ich zogen nach Paris. Als junges Ehepaar wohnten wir in einem kleinen Appartement in der Nähe von Montparnasse. Es bestand aus einem Zimmer mit einer Küchenzeile und einem winzigen Waschraum. Von Freunden hatten wir uns die Möbel stiften lassen: zwei Stühle und einen wackeligen Tisch. Er war derartig instabil, dass man vermeiden musste dagegen zu stoßen, damit er nicht vollends zusammenbrach. Dann gab es zur Vervollständigung der Einrichtung noch ein Bettgestell mit Matratze. Es war sicher bequem, doch so in den kleinen Raum hineingestopft, dass es fast die Eingangstür berührte.

Die Jahre die wir in unserem Appartement verbrachten, wurden glückliche Jahre. An den Abenden schöner Tage lehnten wir oft aus dem einzigen schmalem Fenster, um über den Dächern die Spitze des Eiffelturmes zu sehen. In jener Zeit war der Turm noch nicht mit Lichtern herausgeputzt, so wie er es heute ist.

Unsere Freunde setzten sich, wenn sie kamen, zu sechst auf unser Bett. Das waren die besseren Plätze, die anderen mussten sich auf dem Holzboden niederlassen. Wir improvisierten Picknicks, die erst spät in der Nacht aufhörten. Unser Lachen mischte sich mit den laut mit gesungenen Refrains der Lieder unserer damaligen Stars: Georges Brassens, Yves Montand und anderer Sänger.

Ziemlich häufig war ich knapp bei Kasse. Dann musste ich sämtliche leeren Flaschen zusammensuchen, um mit dem Flaschenpfand etwas zu kaufen, das unsere schmalen Mahlzeiten aufbesserte. Ich blieb ein Feinschmecker, und wenn ich mir einen Kuchen leisten konnte, war das ein Festtag — ein Anklang meiner Kindheit.

Das einfache und bescheidene Leben, das wir führten, gefiel mir, wahrscheinlich weil ich immer noch unter dem Einfluss der entbehrungsreichen Jahre stand, die ich kennengelernt hatte. Unser Lebensstil hatte einen gewissen Reiz, der aber nicht auf ewig vorhalten konnte.

Von der Rue de l'Ouest, wo wir wohnten, gingen wir oft in das Viertel Saint-Germain-des-Près. Es faszinierte uns, weil es dort von jungen Leuten wimmelte, und alle zusammen schienen sie eine wahnsinnige Freude am Leben zu haben. Ich hatte natürlich einige Schwierigkeiten, ihre offenkundige Sorglosigkeit zu teilen.

An einem unvergesslichen Abend sagte mir Jackie ganz zärtlich, dass wir ein Kind haben würden. Diese Nachricht erfüllte mich mit unendlichem Glück: meine junge Ehefrau würde mir das schönste aller Geschenke machen: ein Kind.

Das Glück half mir, als ich damals Herrn Perl wieder traf. Ich kannte ihn, seit wir in Belgien gewohnt hatten. Er bot mir eine Position in seinem Handelsunternehmen an, mit einem höheren Gehalt, als ich hatte und der Aussicht eines schnellen Aufstiegs. Mit Freuden akzeptierte ich auf der Stelle. Eigentlich zog mich der Handel ja nicht sonderlich an, ich hätte viel lieber meine technischen Fähigkeiten genutzt. Ich konnte nicht die absurden anti-semitischen Sprüche vergessen, denen ich seit meiner frühesten Jugend ausgesetzt gewesen war, darunter: „Die Juden verstehen sich nur auf 's schachern!“ Dabei war Wien vor dem Krieg bekannt wegen seiner berühmten Ärzte, Rechtsanwälte, Schriftsteller und Musiker, von denen viele Juden waren.

Aber die neue Arbeit erlaubte mir das nötige Geld aufzunehmen, um eine Wohnung zu kaufen und meiner kleinen Familie Lebensumstände zu bieten, die mehr meinen Wünschen entsprachen. Nach intensiver Suche fanden wir eine Drei-Zimmer-Wohnung, die allerdings in einem baufälligen Zustand war. Außerhalb der Bürostunden musste ich mich nun in einen Mauer, Schreiner oder Fliesenleger verwandeln, um die Räume bewohnbar zu machen. Ich war erschöpft, aber sehr stolz auf das Ergebnis. Unsere erste richtige Wohnung erschien uns luxuriös. Wir hatten ein Badezimmer, das diesen Namen verdiente und sogar einen kleinen Garten, der Dank Jackie bald voller Blumen war. Alles war bereit, um unser Kind zu empfangen!

Nach sechs Jahren der Zusammenarbeit, in denen ich gute Kenntnisse im Handel erworben hatte, verließ ich das Unternehmen des Herrn Perl. Das war, als ich durch einen Freund einen Handwerker traf, dessen Gesundheit angegriffen war und der in einem unglaublichen Durcheinander arbeitete. Er hatte zunehmend Schwierigkeiten mit der Umstellung des Marktes auf Friedensbedingungen und stieß auf eine immer aggressiver werdende Konkurrenz. Dazu kamen noch neue und strengere Steuervorschriften nach dem Kriege. Um diese wenig vorteilhafte Lage zu vervollständigen, musste er seine Werkstatt räumen, die in dem Sanierungsgebiet Belleville lag.

Trotz aller dieser widrigen Umstände war ich bereit, mit ihm eine Geschäftspartnerschaft einzugehen, weil ich für die Verarbeitung von Plastikmaterialien, mit der sich sein Betrieb beschäftigte, vielversprechende Aussichten vorhersah. Während einer langen und harten Zeit arbeitete ich mit aller Kraft daran, dass wacklige Unternehmen wieder auf die Beine zu bringen und in eine gute Marktposition zu führen. Durch die Unterstützung, die die Regierung mittleren und kleinen Unternehmen gewährte, erhielt ich ein Darlehen, um mich in der Provinz niederzulassen. Man wollte das produzierende Gewerbe damit ermuntern, sich außerhalb von Paris anzusiedeln. Mit der Hilfe von André Rossi, dem Abgeordneten des Bezirks Aisne, erwarb ich ein Gelände in einem Weiler in der Nähe der Stadt Soissons, der ihm besonders am Herzen lag. Diese kleine Ortschaft drohte langsam auszusterben, weil die Einwohner in die großen Städte abwanderten. Es gab im Umkreis von zwanzig Kilometern kein einziges Industrieunternehmen und die Landwirtschaft benötigte immer weniger menschliche Arbeitskraft.

Auf dieser Fläche ließ ich eine geräumige Werkhalle bauen und stellte bald auch zwanzig Arbeiter ein. Damit machte ich einen Anfang bei der Lösung des Problems der regionalen Arbeitslosigkeit. Nach fünfunddreißig Jahren harter Arbeit ist die anfängliche Werkstatt zu einer Fabrik geworden, die sich aus verschiedenen Gebäuden zusammensetzt und eine Belegschaft von mehr als 350 Personen hat. Als einen Indikator für das wirtschaftliche Wachstum könnte man die Tatsache anführen, dass es am Anfang nur einen bescheidenen überdachten Fahrradabstellplatz gab, der sich nach und nach in einen Parkplatz für Dutzende von Autos verwandelte.

Die französische Gesellschaft hat sich während der entsprechenden Jahrzehnte beachtlich entwickelt, es waren die „Trente Glorieuses“, die dreißig fetten Jahre Frankreichs.

In vielerlei Hinsicht waren diese Jahre für mich persönlich sehr bereichernd. Endlich konnte ich meine technischen Kenntnisse mit Gewinn einsetzen und ununterbrochen neue hinzu gewinnen, was ich leidenschaftlich gerne tat. Aus den kleinen mit der Hand zu bedienenden Maschinen der Anfangszeit wurden mit den Jahren riesige elektronisch gesteuerte Fertigungsautomaten.

Im Rahmen meiner Tätigkeiten war es mir gegeben, Menschen unterschiedlicher Herkunft kennen und schätzen zu lernen. Ich fühlte mich meinen Beschäftigten nahe. Die Beziehungen beruhten durchaus auf Gegenseitigkeit. Für mich, der ich mit sechszehn Jahren aus der Gesellschaft ausgestoßen worden war, von der Polizei festgenommen wurde, um in eine brutale Gegenwelt gesteckt zu werden, aller Menschlichkeit beraubt, war das immer ein wichtiges Anliegen. Ich habe mich stets geweigert, denjenigen mit denen ich alltäglich Umgang hatte, mit demselben Vorbehalt zu begegnen, mit dem mir Jahre zuvor begegnet worden war. Ich hätte auf immer meine Illusionen verlieren können, aber nach meiner Rückkehr musste ich bald genug wieder lernen offen zu sein und den Menschen Vertrauen entgegen zu bringen.

Als ich die Fabrik 1990 abgab, war sie ein blühendes Unternehmen. Es war nicht ohne Wehmut, dass ich meinem Nachfolger das Ergebnis einer wirklichen beruflichen Erfolgsgeschichte übertrug.

Anick, unsere einzige Tochter kam 1954 zur Welt. Ihre Geburt war für uns eine ungeheuer große Freude. Sie war ein prächtiger Säugling. Auf einem von mehreren Photos, die ich einige Monate nach ihrer Ankunft gemacht habe, scheint sie mich bereits anzulächeln.

Später hörte Anick neugierig den Gesprächen mit unseren Freunden zu. Ihr Zimmer lag direkt neben unserem Wohnzimmer. Ich machte mir Sorgen, denn sie konnte alles Mögliche aus unseren Unterhaltungen aufschnappen, die sich oft genug um die Lager, den Krieg und entsprechende Ereignisse drehten, die uns allen noch so nahe waren. Gerne hätte ich unseren seelischen Ballast von unserer Tochter ferngehalten. Ich fürchte aber, dass Anick als Kind der zweiten Generation (der Verfolgten) nicht völlig unbelastet bleiben konnte.

Wie für viele Eltern, war unser Baby für uns das schönste der Welt. Anick war unkompliziert. Wir schleppten sie in einem Tragekorb mit, wo immer wir hingingen. Bei Freunden schlief sie, und wenn wir – oft spät in der Nacht – heimkehren wollten, hob sie ihr Köpfchen, lächelte uns an und schlief wieder ein. Sie wurde ein absolut bewundernswertes kleines Mädchen und sie war wirklich hübsch.

Regelmäßig gingen wir Sonntags auf den großzügigen Alleen des Parks von Bagatelle spazieren. Es herrschte dort eine ganz besondere Atmosphäre. Autos mussten vor den Gittern stehen bleiben und so konnte unser Kind herumlaufen, wo es wollte, die wunderhübschen Blumen bewundern und die Blumenbeete, die je nach Jahreszeit bepflanzt wurden. Einzige Unannehmlichkeit: unser Lieblingsplatz, an dem wir gerne einen kleinen Imbiss einnahmen, war zeitweise von aufdringlichen Wespen besetzt, die sich über die Marmeladengläser und die Kuchenstücke hermachten.

An einem dieser schönen Sonntage kam eine junge Touristin mit einem Photoapparat in der Hand auf uns zu und fragte:

„Welch ein hübsches kleines Mädchen! Sie erlauben, dass ich es photographiere?

Anick, die noch keine vier Jahre alt war, posierte auf das Anmutigste und fragte am Ende der Photosession:

„Ist es schon zu Ende?“

Die umstehenden Leute lachten belustigt und wir, die wir uns das verkneifen mussten, fühlten uns über die Maßen geschmeichelt. Ich muss zugeben, dass Anick das Glück hat, ihrer Mutter auf das vorteilhafteste zu gleichen und dass sie denselben Charme besitzt.

Für ihr Alter sprach sie viel und erstaunlich gut. Sie liebte es, an das Telefon zu gehen, wenn wir nicht da waren, was ihr verboten war. Eines Tages rief ich zu Hause an, und unüberhörbar war es Anick, die den Hörer abnahm und wie gewöhnlich begann, in aller Ausführlichkeit über die Ereignisse des Tages zu plaudern.

Als ich am Abend aus dem Büro heimkam, fragte ich sie:

„Nun, meine liebe Anick? Du hast aber schnell vergessen, dass ich dir verboten habe anstelle von Nono (diesen Namen hatte sie unserer Hausangestellten gegeben) ans Telefon zu gehen?“

„Nein Papa, ich habe es nicht vergessen, aber ich wusste doch, dass du es bist.“

„Wie konntest du das wissen, ohne vorher mit mir gesprochen zu haben?“

Unschuldsvoll sah sie mich mit großen Augen an. Dann antwortete der kleine Racker:

„Weil es so lieb geklingelt hat...“

Ich kapitulierte vor ihrem Charme und konnte ihr nicht länger böse sein.

Es schien mir angebracht, diesem Bericht auch einige kleine Geschichten aus meinem ungewöhnlich harmonischen Familienleben hinzuzufügen. Natürlich ist Mutter oder Vater zu werden keine besondere Heldentat. Aber für uns Überlebende der Shoah bedeutet Kinder zu haben die Vervollständigung unseres Überlebens.

Unser jetziges Leben wird durch das Dasein von Anick, ihrem Ehemann Lucien und ihrem Sohn Adrien-Benjamin bereichert. Die Geburt meines Enkels Adrien-Benjamin am 18. Dezember 1989 war ein besonders glückliches Ereignis. Es war bewegend wie immer, wenn der Fortbestand einer Familie gesichert wird. Aber es ist selbst in solchen Augenblicken unmöglich, nicht an die Tragödien zu denken, die unsere Generation erlitten hat. Man fragt sich, auf welche Art und Weise man verhindern kann, das derartiges wieder geschieht.

Anlässlich der Beschneidung von Adrien-Benjamin wurde mir bewusst, dass ich durch den Zufall der Abstammung das letzte Familienmitglied meiner Linie war. Sicher ist das von recht eingeschränkter Bedeutsamkeit, aber es führt doch zu Gedanken, die man sich so im Herbst des Lebens macht.

Die Erinnerung an seine Großeltern sind von nun an in den Händen meines Enkels Adrien-Benjamin. Ich vertraue ihm. Er wird sie auf seine Art und Weise zu bewahren wissen und dieser Bericht wird vielleicht dazu beitragen.