Leben im Exil

 

Die Ankunft der Flüchtlingswelle in jener kleinen ländlichen Ecke Frankreichs, wo die Menschen bestimmt selten Juden gesehen hatten, war sicher dazu angetan, Neugier hervorzurufen. Sie erzeugte aber auch viel Unruhe, die nicht gerade erwünscht war. Trotzdem gab es außergewöhnliche Menschen, die uns mit Hilfsbereitschaft begegneten und mit denen wir bald Freundschaft schlossen.

Louisette Crayol ist ihr ganzes Leben lang eine Freundin geblieben. Sie war voller Mut und Opferbereitschaft. Mit achtzehn Jahren hatte sie sich im Ersten Weltkrieg als freiwillige Krankenschwester gemeldet. Sie pflegte hingebungsvoll einen jungen Soldaten namens Paul Crayol, der sehr schwer verwundet worden war und verliebte sich in ihn. Trotz seiner Behinderung, er war von den Füßen bis zur Taille gelähmt, heiraten sie nach dem Krieg und ließen sich in Revel nieder, wo Paul geboren worden war. Dreiundzwanzig Jahre lang haben sie sich geliebt. Weil sie keine eigenen Kinder haben konnten, adoptieren sie drei. Paul Crayol, der alle seine Zeit den weniger begünstigten Mitmenschen widmete, war die Güte selbst. Das ganze Dorf mochte das Paar und betrachtete es als Vorbild. Ich habe immer bedauert, dass ich diesen hervorragenden Mann nie kennengelernt habe, weil er wenige Monate vor unserer Ankunft gestorben war.

Nachdem meine Eltern einige Tage in einer Scheune gelebt hatten, brachte Louisette Crayol uns alle vier in ihrem kleinen Haus unter, wo es sehr eng war. Sie redete mit den Nachbarn und vielen Freunden und fand etwas später eine Unterkunft für uns bei den Brunels. Die Großmutter Anna, ihre Tochter Elise und ihr kleiner Sohn René, der acht Jahre alt war, haben uns schnell adoptiert. Spontan zogen sie in den weniger bequemen Teil ihres Hauses um, damit überließen sie uns die größeren Zimmer. Selten habe ich solche schlichte Wärme, solche Herzensgüte in menschlicher Beziehung wieder erlebt.

Seit der Rückkehr von meiner Deportation haben meine Frau und ich so oft es ging Pauline Sarda überrascht, unsere Freunde die Brunels wiedergesehen und an Hochzeiten und Taufen teilgenommen. Was Louisette Crayol betrifft, so ist sie zu ihren Kindern und Enkelkinder gezogen, die die Region verlassen haben.

Auf dem Bauernhof der Brunels veränderte sich mein Leben als kleiner Städter. Ich lernte zu gärtnern, zu jäten, das Haus mit Eimern frischen Brunnenwassers zu versorgen, die Hecken zu schneiden, die vernachlässigt worden waren, seit Marcellin, der Mann von Elise eingezogen worden war. Freundlich machte sie sich über mein Französisch lustig:

„Du sprichst zwar wie eine spanische Kuh, aber ich hab' dich trotzdem gern.“

Es war der kleine René der mir erklärte, was sie mit „spanische Kuh“ meinte. Sie wollte sagen, dass mein Schulfranzösisch reichlich unbeholfen klang.

Eines Tages traf ich sie, als ich völlig außer Atem vom Wasserholen kam. Sie trocknete sich gerade die Hände an ihrer Schürze ab und beauftragte mich, mit der ihr eigenen Freundlichkeit, meiner Mutter eine Botschaft zu übermitteln.

„Sag ihr sie kann sich aus dem Garten soviel Gemüse und Obst nehmen, wie sie braucht, und dass sie sich keinen Zwang antun soll.“

Meine Mutter war begeistert von diesem Geschenk des Himmels.

In einer Ecke der Scheune wartete ein Fahrrad auf die Rückkehr seines Besitzers. Ich betrachtete es mit Neid. Seit meiner Abfahrt aus Wien war ich nicht mehr Rad gefahren. Schließlich wagte ich es, Elise um Erlaubnis zu bitten, das Rad zu benutzten:

„Ist gut, Kleiner, nimm es, aber pass gut auf, mach' es nicht kaputt. Marcelin soll es in gutem Zustand wiederfinden, wenn er zurückkommt.“

In jener Zeit war das Fahrrad überall auf dem Lande fast das einzige Fortbewegungsmittel. Welche Freude, welche Kunststücke konnte ich mit ihm vollbringen! Jeden Abend konnte ich so zu einem Bauern in der Nachbarschaft fahren und mehrere Milchflaschen voll machen. In jener Gegend nutzte man die Milch vor allem, um die Kälber zu füttern. Am Anfang gab mein Verhalten dem Bauern Rätsel auf. Schließlich schloss er mich in sein Herz und fragte mich gutherzig lachend:

„Du liebe Zeit! Kleiner, was machst du denn mit der ganzen Milch? Du solltest lieber ein Stück Speck essen und einen schönen Roten trinken.“

„Aus der Milch macht meine Mutter Butter und Quark.“

Meine Antwort fand er anscheinend sehr komisch. Er lachte schallend.

Die Brunels, Louisette Crayol, Pauline Sarda und meine anderen Freunde aus dem ländlichen Milieu, lehrten mich diese Ecke Frankreichs lieben, zu der ich mich seit dem stark hingezogen fühle. Die Zeit, die ich mit meiner Familie in Revel verbrachte, war die ruhigste in meinem Leben als „Flüchtling“.

Der einzige Junge in meinem Alter, mit dem ich befreundet war, hieß Isidor Sperber. Er wohnte in Castres, einer Stadt, die achtundzwanzig Kilometer entfernt lag. Ich habe Isidor und seine Familie an einem Tag kennengelernt, als sie in Revel den Schienenbus nach Toulouse nahmen. Von Zeit zu Zeit besuchte ich ihn mit „meinem“ Fahrrad.

Sechsundfünfzig Kilometer am Tag waren für mich eine echte Leistung. In den Pedalen stehend, die Hände fest am Lenker, nahm ich die Steigungen wie ein Rennfahrer im Zick-Zack-Kurs. In freudiger Erregung sauste ich anschließend bergab. Glücklicherweise ahnte meine Mutter nichts von meinen sportlichen Heldentaten. Wie unruhig hätte sie sonst auf meine Rückkehr gewartet!

Im Laufe des Jahres 1941 kehrten die meisten belgischen Flüchtlinge nach Hause zurück. Nur die ausländischen sowie einige französische Juden blieben in Revel und der Umgebung zurück. Nachdem sich die Dinge für einige Monate beruhigt hatten, befahl die Bezirksverwaltung die zwangsweise Zusammenfassung derjenigen, die noch da geblieben waren, in einem sogenannten Familienlager. Obwohl es uns widerstrebte, sahen wir keine andere Möglichkeit, als dem Zwang Folge zu leisten. Und so mussten wir unsere neuen Freunde betroffen zurücklassen und mit ihnen den Frieden in Revel ...

Agde, das angekündigte Familienlager, lag ungefähr einhundert Kilometer von Revel entfernt. Wir wurden mit dem Zug transportiert und von bewaffneter Bereitschaftspolizei in Empfang genommen. Sie trennten die Frauen von den Männern, und die so auseinandergerissenen Familien wurden hinter Stacheldraht untergebracht.

Adge war abstoßend dreckig. Das ständige Zusammengepferchtsein war schwer zu ertragen und deprimierend.

1938 waren in Frankreich für sogenannte unerwünschte Ausländer viele Internierungslager eingerichtet worden. Im spanischen Bürgerkrieg, nach der Eroberung Barcelonas durch die Faschisten im Februar 1939, zählte man mehr als  500 000  zivile und militärische spanische Flüchtlinge, die an diesen Orten untergebracht worden waren. Schon damals legte der medizinisch Verantwortliche der Lager, General Peloquin, einen Bericht vor, in dem es hieß, dass in den Lagern Argelès, St. Cyprien und Barcarès wegen der mangelnden Gesundheitsvorsorge und der fehlenden Hygiene die Zahl der Toten bald höher als  15 000 lag.  Dieser Bericht führte unter anderem genauer aus, dass:

„Die Menschen sich dort in den Zustand von Tieren erniedrigt sahen.“

Unter den spanischen Flüchtlingen, die zum Zeitpunkt unserer Ankunft in Adge interniert waren, gab es viele, die noch an ihren Kriegsverletzungen litten. Seit 1940 dienten die Lager dazu, Juden einzusperren. Von dort aus wurden ein, zwei Jahre später viele in die deutschen Vernichtungslager deportiert. Besonders Alte oder Kranke starben aber bereits in den Internierungslagern und wurden dort beerdigt, besonders in Gurs.

Ich zitiere eine Aussage des Geschichtsprofessors Jean Estèbe von der Universität Toulouse, der eine Studie über viele Lager im Süd-Westen Frankreichs gemacht hat: „Man müsste Gurs, Le Vernet und Noé im gleichen Atemzug nennen, wie die militärischen Niederlagen [Frankreichs]: Alésia, Waterloo oder Sedan.“

Papa litt seit längerer Zeit an einer Bronchitis. Sie heilte schlecht aus und entwickelte sich zu einer Tuberkulose. Er musste bald nach unserer Ankunft in das Krankenhaus von Béziers gebracht werden, und so wurde, wie wir so oft gefürchtet hatten, unsere Familie auseinandergerissen.

Erika, die jetzt siebzehn war, meldete sich als Krankenschwester und begleitete jeden Tag die Kranken des Lagers zum Hospital. Sie kam denjenigen, die noch unglücklicher dran waren zur Hilfe, bis sie sich eine Gelbsucht zuzog und nun ihrerseits in das Krankenhaus von Montpellier musste. Ihre Selbstlosigkeit beeindruckte mich.

Ich war nun ganz allein in dem Männerlager und wollte unbedingt zu meiner Mutter, die nach dem Abtransport meiner Schwester ebenfalls allein war. In der Abenddämmerung versuchte ich heimlich unter dem Stacheldraht hindurchzuschlüpfen, um wieder zu ihr zu kommen. Ich wurde von einem Polizisten eingefangen, der mich mit seinem Gewehr bedrohte und so musste ich, mit Wut im Bauch, enttäuscht und erniedrigt, den Rückzug antreten.

Nach einigen trübseligen Wochen an diesem Ort erhielten meine Mutter und ich endlich die Erlaubnis, meinen Vater und meine Schwester zu besuchen. Papa war sehr geschwächt und unglücklich, dass er uns nicht helfen konnte. Er schlug uns vor, nicht in das Lager zurückzukehren. Wir folgten seinem Rat und fanden ein schäbiges Hotel, wo wir glücklicherweise keinen Meldezettel ausfüllen mussten. Das war wichtig, weil wir ja mit den Behörden nicht im reinen waren.

Auf dem Bett sitzend gab mir meine Mutter als Abendessen ein Stück Brot. Nach einigen Happen, bat ich ihr an, was übrig war:

„Ich habe keinen Hunger. Ich bin nur etwas müde. Iß nur, mein Liebling!“

Kaum hatte ich den letzten Bissen heruntergeschluckt, wurde mir ihre fromme Lüge bewusst, das war aber etwas zu spät! Nach so vielen Jahren habe ich immer noch Gewissensbisse, dass mir an dieser Stelle das Feingefühl gefehlt hat.

In diesem Zimmer schrieb ich so gut ich konnte an Louisette Crayol um ihr unsere Lage zu schildern und um ihre Hilfe zu bitten. Liebe und teure Freundin, ihre Antwort ließ nicht lange auf sich warten! Sie fügte ihrem Brief sogar Brotmarken bei. Wegen der Lebensmittelrationierung konnte man nur auf Marken einkaufen und ihre Sendung entsprach der Monatszuteilung für eine Person. Die Marken waren fast nützlicher als bares Geld.

Sie teilte uns mit, dass sie Eingaben an die Präfektur in Toulouse gerichtet hatte, damit wir nach Revel zurückkommen dürften. Sie wäre persönlich bereit, für unsere Familie zu bürgen. Jahre später erhielt ich Einblick in ihren Brief, der von ihrer Großzügigkeit und ihrer Seelengröße zeugte. Ein Abschnitt blieb mit im Gedächtnis:

„Mein Mann, Schwerkriegsverletzter, hat sein Leben dem Vaterland geopfert und ist gestorben. Er hätte sich geschämt über die Art und Weise wie Frankreich mit den Flüchtlingen umgeht, die hierher gekommen sind, um Hilfe und Schutz zu suchen.“

Es ist Louisette Crayol zu verdanken, dass wir nach Revel zurückkehren konnten. In einer kleinen Erdgeschosswohnung in der Rue Notre-Dame fanden wir uns endlich wieder vereint. Diesmal hatten wir aber nur eine beschränkte Aufenthaltserlaubnis.

Als ich in der Nähe unserer neuen Unterkunft die Straße entlang schlenderte, hörte ich den Lärm einer elektrischen Säge. Neugierig blieb ich vor dem Ausgang eines Schuppens stehen. Ein Mann kam aus der Werkstatt und fragte mich freundlich:

„Suchst du was, Kleiner?“

Jean Rouanet war Kunsttischler. Als er meine Neugier und mein Interesse sah, führte er mich zu seiner Werkbank und zeigte mir, wie man aus kleinen Stücken verschiedener Holzarten, die vorher zugeschnitten worden waren, eine Einlegearbeit zusammenfügt. Ich war fasziniert.

Als er mir vorschlug, sein Lehrling zu werden, nahm ich mit Freuden an. Von Anfang an liebte ich es, mit Holz zu arbeiten. Ich mochte den besonderen Geruch in der Werkstatt. Seit dieser Lehrzeit habe ich einen Hang zu schönen Möbeln, die sorgfältig hergestellt sind. „Von guter Arbeit,“ würde Rouanet sagen... In meinem Besitz befindet sich immer noch ein Stück, bei dessen Herstellung er mir geholfen hat. Es war ein Geburtstagsgeschenk für meine Mutter, ein Tablett mit einer Einlegearbeit, die Blumen darstellte - das Ganze im Stil Ludwig XVI. Auch heute noch ist Revel für Nachahmungen von Stilmöbeln bekannt und für Werkstätten, in denen man sich auf die Restaurierung antiker Möbel versteht.

Mein Meister zahlte mir einen Lohn von einhundert Francs im Monat. Voller Stolz beeilte ich mich, das Geld meinen Eltern zu geben. Jean Rouanet war Anhänger Pétains, unsere Diskussionen waren so schwierig wie lebhaft. Davon abgesehen, dass sich so mein Französisch verbesserte, ermöglichten die Debatten mir auf dem laufenden zu bleiben, was die Entwicklung des Krieges betraf. Oft widersprach ich ihm, aber auf seine Weise mochte er mich trotzdem. Ich war „sein kleiner Jude.“

Als Deutschland die Sowjetunion angegriffen hatte, erschien ich voller Freude bei der Arbeit und behauptete:

„Das ist es, Deutschland wird den Krieg verlieren! Erinnern Sie sich nur an die napoleonischen Kriege!“

„Sei still, davon verstehst du nichts!“

Er war sichtlich verärgert.

Der praktizierende Katholik und gute Familienvater beteiligte sich später – zu seinem und seiner Angehörigen Unglück – an der Miliz und bekämpfte den französischen Widerstand. Er wurde nach der Befreiung verhaftet und aus Revel fortgejagt. Er hat nichts unternommen, um mich nach meiner Rückkehr aus Auschwitz wiederzusehen, und ich auch nicht.

Erika hatte ebenfalls Arbeit gefunden. Sie war Buchhalterlehrling in der Brennerei „Rayssac & Cie“ und gab Renée, der Tochter des Arztes Roger Ricalens, Deutschstunden. Doktor Ricalens behandelte meinen Vater. Wir schätzten ihn ganz enorm und vertrauten ihm völlig.

Während wir unsere relative Ruhe in Revel wiederfanden, ereigneten sich in der von den Deutschen besetzten und auch in der angeblich freien Zone von Vichy tragische Vorfälle. Wir hatten absolut keine Ahnung von den französischen antisemitischen Gesetzen, die seit 1940 erlassen worden waren, genauso wenig wie von den dramatischen Festnahmen in Paris, den sogenannten „Rafles du Vel-d'Hiv“ vom 16. und 17. Juli 1942, in deren Verlauf  13 152  Frauen und Männer, darunter auch alte Menschen und  4 115  kleine Kinder von der Pariser Polizei verhaftet und unter schrecklichen Bedingungen im „Velodrome d'Hiver“ (einer überdachten Radrennbahn) festgehalten wurden, um anschließend über Pithivers, Beaume de la Rolande oder Drancy nach Auschwitz deportiert zu werden.

Heute scheint es befremdlich, dass wir zur gleichen Zeit vermeintlich wohlaufgehoben in unserer friedlichen, ländlichen Abgeschiedenheit lebten und hofften, dass wir dort bis zum Ende des Krieges in völliger Sicherheit bleiben könnten.

Was für ein Irrtum!